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Der Herzausreißer

Der Herzausreißer

Titel: Der Herzausreißer
Autoren: Boris Vian
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sein.«
    Er versetzte André einen gewaltigen Fußtritt, weil er sich nicht genügend beeilte, aus der Schlaufe zu schlüpfen. André stieß einen Schmerzensschrei aus und drückte sich an die Mauer, die Arme über den Kopf verschränkt. Der Schmied lachte rau auf. Den Karren mit Leichtigkeit ziehend, passierte er das Gitter und schloss es geräuschvoll. André hörte, wie das Knirschen der Räder auf dem Kies sich immer weiter entfernte, und dann vernahm er nur mehr den Wind, der durch den Efeu auf der Mauer strich. Er schniefte, rieb sich die Augen und setzte sich hin. Er wartete.
    Ein heftiger Rippenstoß riss ihn aus seinem Schlaf, und schlagartig war er wieder auf den Beinen. Es war schon langsam Abend geworden. Sein Meister stand vor ihm und sah ihn mit spöttischer Miene an.»Du möchtest wohl gerne da hinein, was?« sagte er.
    André war noch nicht richtig wach und antwortete nicht.
    »Geh rein und hol mir den großen Hammer, den ich im Zimmer drin vergessen habe.«
    »Wo?«, fragte André.
    »Willst du dich wohl beeilen?«, bellte der Schmied und hob eine Hand.
    André stürzte los, so schnell ihn die Beine nur tragen konnten. Trotz seines Wunsches, den großen Garten zu sehen, konnte er seine Füße nicht daran hindern, in gerader Linie auf das Haus zuzustreben. Im Vorbeilaufen bot sich ihm der gespenstische Anblick des weiten leeren Raumes, der ohne Sonne beunruhigend wirkte; und da war er auch schon an der Freitreppe. Erschrocken blieb er stehen. Doch dann trieb ihn der Gedanke an seinen Meister vorwärts; der Hammer musste geholt werden. Er stieg hinauf.
    Im Wohnzimmer brannte Licht und rieselte durch die offenen Fensterläden auf die Stufen. Die Tür war nicht verschlossen. André klopfte schüchtern an.
    »Herein!«, sagte eine leise Stimme.
    Er trat ein. Vor ihm stand eine ziemlich große Dame in einem sehr schönen Kleid. Sie sah ihn an, ohne zu lächeln. Sie blickte einen auf eine Weise an, die einem die Kehle etwas zuschnürte.
    »Mein Meister hat seinen Hammer vergessen«, sagte er. »Ich komm ihn holen.«
    »Gut«, sagte die Dame. »Dann beeil dich, mein Kleiner.«
    Als er sich umwandte, erblickte er die drei Käfige. Sie ragten im Hintergrund des von allen Möbeln entleerten Zimmers auf. Sie waren gerade hoch genug für einen nicht allzu großen Mann. Ihre eng verflochtenen Gitterstangen verhüllten das Innere zum Teil, doch etwas bewegte sich dahinter. In jeden Käfig hatte man ein kleines, weiches Bett, einen Sessel und ein niedriges Tischchen gestellt. Eine elektrische Lampe erhellte sie von außen her. Während er hinzutrat, um seinen Hammer zu suchen, gewahrte er blondes Haar. Er sah genauer hin, etwas gehemmt jedoch, da er spürte, dass die Dame ihn beobachtete. Doch zur gleichen Zeit hatte er auch schon den Hammer gefunden. Weit riss er die Augen auf, als er sich bückte, ihn aufzuheben. Als sich ihre Blicke trafen, wusste er, dass sich in den Käfigen ebenfalls kleine Jungen befanden. Einer von ihnen fragte etwas, die Dame öffnete die Käfigtür, ging zu ihm hinein und sagte etwas, was André nicht verstand, doch in sehr zärtlichem Ton. Und dann stieß sein Blick erneut mit dem der Dame zusammen, die wieder herauskam, und da sagte er »Auf Wiedersehen, Madame« und machte sich auf den Weg, gebeugt unter der Last des Hammers. Sowie er an der Tür angekommen war, hielt ihn eine Stimme zurück.
    »Wie heißt du?«
    »Ich heiße ...«, fuhr eine andere Stimme fort.
    Das war alles, was er hörte, denn man schob ihn nun nicht brutal, doch entschieden hinaus. Er stieg die Steinstufen hinab. In seinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Als er zum großen, goldenen Gittertor kam, wandte er sich ein letztes Mal um. Musste das wunderbar sein, so schön beisammen zu sein, mit jemandem, der einen verhätschelt, in einem kleinen, heimelig warmen Käfig voll Liebe! Er machte sich wieder auf den Weg ins Dorf. Die anderen hatten nicht auf ihn gewartet. Hinter ihm fiel, vielleicht von einem Luftzug geschoben, mit einem satten Knall das Gittertor ins Schloss. Der Wind strich zwischen den Stäben hindurch.

Der Autor

    Boris Vian (* 10. März 1920; † 23. Juni 1959) war ein französischer Schriftsteller, Jazztrompeter, Chansonnier, Schauspieler und Übersetzer.
    Nach Beendigung seines Ingenieurstudiums 1942 arbeitete er zunächst in seinem Beruf, unternahm jedoch bereits 1941 erste schriftstellerische Versuche. Ein Jahr später entstand sein erster Roman »Aufruhr in den Ardennen«. Gleichzeitig machte
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