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Der Henker von Paris

Der Henker von Paris

Titel: Der Henker von Paris
Autoren: Claude Cueni
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dafür war die Bezahlung zu gut«, erwiderte sie verächtlich. »Es gab nie einen Fluch. Ich bin nach Paris gekommen, Monsieur, um die Tagebücher Ihres Grossvaters zu kaufen. Er hat doch während der Revolution Tagebuch geschrieben?«
    »Ja«, sagte er, »mein Grossvater war Charles-Henri Sanson, der grosse Henker der Französischen Revolution. Man nannte ihn ehrfürchtig Monsieur de Paris. Er hat mir alles erzählt. Mein Vater hat sich kaum dafür interessiert. Die Geschichte wird ihn vergessen. Aber meinen Grossvater, den wird man nicht vergessen.«
    »Wo sind die Tagebücher, Monsieur? Ich will sie sehen. Ich will lesen, was der grosse Sanson über mich geschrieben hat.«
    »Über Sie? Wie auch immer: Ich bezweifle, dass Ihnen die Aufzeichnungen Freude bereiten werden. Aber wenn Siedarauf bestehen, Madame, wird es etwas kosten. Ich brauche Geld. Kennen Sie d’Olbreuse? Ein Mann der Feder. Er sucht Memoiren für seine Druckerei. Er sucht skandalträchtige Tagebücher. Balzac soll ihm bei der Überarbeitung helfen. Es ist zu viel für einen einzigen Mann. Dreitausend Morde, das kann ein Mensch allein nicht verkraften …«
    »Und doch hat es einer getan«, unterbrach sie ihn.
    »Er hat es getan, aber den Frieden, den hat er nicht mehr gefunden.« Henri-Clément lachte leise und warf der Frau einen prüfenden Blick zu. »Was wissen Sie schon über die Sansons?«
    »Eine ganze Menge«, murmelte sie vieldeutig, »aber das ist jetzt nicht wichtig. Hat d’Olbreuse die Tagebücher schon gelesen?«
    Misstrauisch schaute er zu ihr hinüber. Ein kalter Schauer fuhr ihm über den Rücken. Plötzlich hatte er eine Ahnung. Hatte sein Grossvater nicht die verrückte Marie erwähnt, die ihm nachts auf dem Friedhof Madeleine aufgelauert hatte? Falls diese Frau die Revolution überlebt hatte, musste sie heute … Er rechnete. Über fünfzig Jahre war das her. Über ein halbes Jahrhundert. Sie musste über achtzig Jahre alt sein.
    »Ich will die Maschine und die Tagebücher«, sagte die Frau mit eiserner Stimme und streifte den Schleier ab. Jetzt konnte er ihr Gesicht deutlich sehen. Die knochige Nase stach wie ein Fels aus dem ausgemergelten Gesicht. Die Haut weiss wie der Kalk, den man damals auf dem Friedhof Madeleine über die blutüberströmten Rümpfe der Guillotinierten schüttete. Ihr Blick mumienhaft starr, als sei sie soeben einer Gruft entstiegen. Ihre Augen glasig wieMurmeln. Und jetzt, da ihr die Farbe des Zorns ins Gesicht schoss, wirkte sie fast rosa, wie eine alte Puppe aus Wachs. Wie eine Wachsfigur aus dem Kabinett des Schreckens.
    »O mein Gott«, sagte Henri-Clément entsetzt und fuhr sich mit beiden Händen über das Haar. »Sind Sie etwa diese verrückte Marie vom Friedhof Madeleine? Sie sind Madame Tussaud!« Er war ein schlechter Schauspieler. Die jahrelangen Alkoholexzesse hatten ihn zerrüttet. »Ich habe alles verkauft, Madame«, fuhr er fort, ohne ihre Antwort abzuwarten, »die Locken von Louis XVI, den Schuh von Marie Antoinette, den speckigen Kragen von Danton. Nur von Robespierre haben wir nichts aufbewahrt. Ausser einem blutgetränkten Taschentuch. Ich weiss nicht, wem es gehörte. Es gab so viele Menschen, die nach der Exekution zum Schafott rannten und ihr Taschentuch im Blut tränkten. Es sollte Glück bringen. Mir blieben nur die Maschine und die Tagebücher.«
    Madame Tussaud schob den zahnlosen Unterkiefer nach vorn und presste die dünnen Lippen zu einem Strich zusammen. »Ich will die Maschine und die Tagebücher«, wiederholte sie, »ich will alles.«
    »O mein Gott«, seufzte er und rang nach Worten. Er verwarf die Hände, wollte aufstehen, doch er blieb knien. Ihm fehlte die Kraft. Im Übrigen wollte er beten. Er musste beten. Wie alle seine Vorfahren. Sie hatten alle viel gebetet. Für all die Seelen, die die Maschine vom Körper getrennt hatte. »Ich bin hier, um zu beten«, schrie er verzweifelt. Seine Worte widerhallten in der leeren Kirche. Wieder starrte er auf das Mosaikbild über dem Altar, als wollte er sich vergewissern, dass Gott vernommen hatte, dass erhergekommen war, um zu beten, und dass es nicht seine Schuld war, dass er immer noch am ersten Rosenkranz war. Nicht schon wieder seine Schuld.
    »Monsieur«, sagte Madame Tussaud ungerührt, »Sie können schreien und toben, wie Sie wollen. Ihr Benehmen ist unwürdig. Sie sind hier, um zu beten, und ich bin aus London hergekommen, um die Maschine zu kaufen. Ich bezahle bar. Zehntausend Franc.«
    »Zwanzigtausend für die
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