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Der Henker von Paris

Der Henker von Paris

Titel: Der Henker von Paris
Autoren: Claude Cueni
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Balken. Charles’ Konterfei war das Letzte, was Fouquier sah, als man ihn aufs Brett band und in die Waagerechte klappte.
    Das Blut quoll über die Holzbohlen. Charles wurde nicht befleckt. Er wusste, wo man zu stehen hat.
    Fouquiers Tod veranlasste Charles, erneut sein Tagebuch hervorzunehmen. Es war sein letzter Eintrag. Danachschwieg er für immer. Er war zu schwach, um die Feder zu führen. Es war zu viel für die Hand, die dreitausend Menschen guillotiniert hatte. Die letzten Worte in seinem Tagebuch waren: »Es gibt keinen Fluch. Es gab nie einen Fluch. Es gibt nur einen Fluch, wenn man daran glaubt. Aber ich glaube nicht mehr daran. Der Mensch ist frei in seinen Entscheidungen.«
    Charles-Henri Sanson sah nie mehr ein Schafott. Er sass oft unten am Fluss und starrte ins Wasser. Er überlegte, ob es möglich sei, dass eins der Opfer wiederkehre. Eine spirituelle Begegnung oder etwas Vergleichbares. Bei so vielen Geköpften konnte es doch sein, dass einem Einzigen die Wiederkehr gelang. Wenn sich jemand näherte, versetzte ihn dies in Angst und Schrecken. War es real, oder war es die befürchtete Wiederkehr? Wenn er traurige Blicke sah, kam ihm stets in den Sinn, wie traurig viele Verurteilte ihn jeweils angeschaut hatten. Ich muss schon gehen, während andere bleiben können, schienen sie zu sagen. Die werden folgen, dachte Charles. Immer wieder zuckte er zusammen. Jedes Geräusch verband er mit der Maschine, die ihn versklavt hatte. Das Knarren der Holzbohlen, das giftige Quietschen, wenn das Klappbrett nach vorn gestossen wurde, das Zuklappen der Lünette, das Lösen des Bolzens, das Heruntersausen des Fallbeils, das dumpfe Aufschlagen des Kopfes im Weidenkorb.
    Auch in der Küche gab es viele Geräusche, die ähnlich klangen. Sassen sie beim Essen am Tisch, fuhr er plötzlich hoch, sein Herz pochte, und das Blut wich aus seinem Gesicht. Er starrte Marie-Anne an, als wollte er in ihremGesicht lesen, ob er sich das alles eingebildet hatte. Sie lächelte und ging auf ihn zu. Er verstand nicht, wieso sie jetzt hier war und lächelte. Sanft legte sie von hinten ihre Hände auf seine Schultern. Manchmal sprach sie sogar zu ihm. Sie sagte, alles sei gut. Oder sie fragte ihn, ob er noch Suppe wolle. War er noch hungrig, nickte er. Es war ein besonderer Kopf, kahl, hager, und wenn ihn keine Geräusche aufschreckten, strahlte er eine grosse Ruhe und Würde aus. Seinen Gehilfen entging nicht, wie er sich veränderte. Aber zu gross war der Respekt, den sie Monsieur de Paris entgegenbrachten. Henri sass immer zu seiner Rechten am Tisch und legte stets seine Hand auf die seines Vaters, wenn diese kaum merklich zitterte. Fast zärtlich berührte er die Hand und fuhr mit dem Daumen darüber.
    Charles ritt am Gärtnerhaus seiner verstorbenen Schwiegereltern vorbei, den endlosen Gemüsebeeten entlang, bis er den Wald erreichte. Er nahm den schmalen Pfad, der sich im Laufe der Jahre gebildet hatte, und ritt hoch hinauf in den Wald, bis er oben auf dem Hügel die saftigen Wiesen sah, die von Felsen begrenzt wurden. Dort, wo die Wiesen im Schatten lagen, waren sie immer nass, so dass sein Pferd mit den Hufen darin versank. Er stieg ab und stampfte durch den Matsch. Dann sah er die Pilze. Der Fruchtkörper hatte ungefähr die Höhe einer Hand. Als Charles den Pilz pflückte, verfärbte sich die Bruchstelle blau. Er ritt zurück in den Wald, bis er die Seite erreichte, die der Sonne zugewandt war. Dann ritt er hinunter zum Fluss. Hier war der Boden trocken. Er nahm den Sattel von seinem Pferd und warf ihn über einen Baumstrunk. Er legte sich hin und ass den Pilz.
    Zuerst hörte er nur vereinzelte Vogelstimmen, dann wurden es mehr und mehr. Es war, als würde die ganze Welt für ihn singen. Der Himmel begann zu atmen, aber er hatte keine Angst, erdrückt zu werden, denn er fühlte sich so leicht, als schwebte er auf Daunen. Charles wusste aus der Literatur, die ihm sein Vater hinterlassen hatte, dass dieser Pilz in grauer Vorzeit dazu benutzt worden war, das Schicksal zu befragen. Deshalb nannte man ihn das Fleisch der Götter. Er spürte, wie Gott in ihn fuhr. Er spürte das Kribbeln von Ameisen in seinen Schultern, spürte, wie sie langsam der Wirbelsäule entlang hinabwanderten, bis sie den ganzen Körper besetzt hatten. Dann setzte die Kälte ein. Er versuchte aufzustehen, doch er schwankte wie ein Betrunkener. Selbst sein Pferd wich vor ihm zurück. Die Farben und Lichter um ihn herum begannen zu sprühen, und plötzlich sah
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