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Der Henker von Paris

Der Henker von Paris

Titel: Der Henker von Paris
Autoren: Claude Cueni
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hoch.
    »Weisst du, wie eine leere Scheune aussieht?« murmelte Charles.
    Henri nickte.
    »Wenn sie dir alles wegnehmen, bist du leer wie eine Scheune. Das Pferdegeschirr, die Fuhrwerke, die Pferde, alles weg. Sie lassen dir nur die Feuerzangen, damit du dich weiter quälen kannst.«
    Henri schwieg betreten.
    »Ich werde ausreiten«, sagte Charles, »ans Ufer der Seine, nein, nein, dort war ich schon.«
    »Das war in deinem Traum, Vater.«
    »Geh jetzt, geh zur Guillotine. Sie wartet auf uns.«
    »Vater, es ist nur ein Holzgerüst mit einer scharfen Klinge.«
    »Nein, nein«, wehrte Charles ab, »sie haben mich erschaffen, sie haben mich nur für die Guillotine erschaffen. Und das viele Blut, das die Guillotine vergiesst, erweckt sie zum Leben. Wartet nur, bald steht sie vor unserer Haustür.«
    »Dan-Mali«, sagte Charles, als er spätabends mit Henri ein Glas Wein trank, »ich habe sie geliebt, wie ich noch nie jemanden zuvor geliebt habe. Ich hätte nicht geglaubt, dass ein Mensch solche Gefühle haben kann, Gefühle, die stärker sind als Wind, Wasser und Gewehrkugeln.«
    Henri kratzte sich verlegen am Ohr.
    »Sie war einmalig«, sagte Charles leise, »ihr habe ich mein Herz geschenkt. Man kann sein Herz nur einmal verschenken, man kann nur einmal lieben, dann ist die Liebe vergeben. Was du später gibst, ist irgendetwas, aber man nennt es nicht Liebe.«
    »Es muss nicht Liebe sein«, sagte Henri, »man kann auch ohne leben.«
    »Aber nicht wenn man das Paradies gesehen hat.« Charles nahm ein Amulett aus seiner Tasche und legte es auf den Tisch. »Das ist die geborstene Glocke der Sansons, eine Glocke ohne Ton. Es war ein Geschenk für einen unserer Vorfahren. Sie wurde in der Neuen Welt in Silber gegossen. Sie gehört jetzt dir. Ich bin viele Tode gestorben, Henri. Der Tod kann nicht schlimmer sein als das Leid, das ich auf Erden erfahren habe. Ich sterbe ohne Angst.«
    »Aber Vater«, sagte Henri entsetzt, »es ist noch nicht Zeit zum Sterben.«
    »Beende die Dynastie der Henker«, sagte Charles, »erlöse unser Geschlecht. Deine Nachkommen sollen irgendetwas werden, Bäcker, Schreiner, Buchdrucker, irgendetwas, aber nicht Henker.«
    »Fühlst du dich nicht gut, Vater?«
    »Das Leben weicht aus meinem Körper«, flüsterte Charles, »es will nicht mehr. Irgendeinmal ist Schluss, Henri.«
    Charles war vor Erschöpfung eingeschlafen. Doch nach wenigen Stunden kamen die Dämonen und peinigten ihn. Er träumte immerzu, dass Dan-Mali nicht tot war, dass sie irgendwo war und lebte. Aber sie lebte nur in seinen Träumen. »Sie ist tot«, riefen ihm die Menschen in seinen Träumen zu, aber er achtete nicht auf dieses Geschwätz und schleppte Dan-Malis Leichnam hinter sich her, auf der Suche nach jemandem, der ihm bestätigte, dass sie nicht tot war. Aber in seinen Träumen mochte das niemand bestätigen. Und wenn er aufwachte, wusste er, dass Dan-Mali tot war. Er trat in den Hof hinaus und starrte in den Nachthimmel. Er fühlte sich vollkommen einsam.
    Er wartete darauf, dass die Müdigkeit zurückkam. Manchmal trank er Wein. Dann kehrte er in die Pharmacie zurück und legte sich wieder ins Bett. Er fand keinen tiefen Schlaf. Er döste einfach vor sich hin. Plötzlich schreckte er hoch und hörte die Stimme wieder, die ihn aus seinem Traum gerissen hatte. »Kun kwaun.«
    Charles blieb liegen. »Bist du es, Dan-Mali?«
    »Kun kwaun.«
    »Bist du drüben?«, fragte Charles. Er rührte sich nicht. Er spürte einen feinen Luftzug und atmete den Duft ihrer Haut. »Bist du bei mir?«
    »Kun kwaun«, wiederholte sie noch zärtlicher als zuvor.
    Charles fühlte, wie Tränen über seine Wangen liefen. »Bist du es wirklich? Dan-Mali, ich dachte, die Toten kehren nicht zurück. Aber einige schon, nicht wahr?«
    Dan-Mali antwortete nicht.
    »Es ist nur ein Traum, nicht wahr?«
    Dan-Mali schwieg.
    Charles sah das Licht, das unter dem Türspalt in die Pharmacie drang. Obwohl es dunkel war, sah er auch das Blut. Es floss schnell, wie nach einem Dammbruch. Jetzt wurden Türen und Fenster eingedrückt, und überall drangen riesige Blutmengen herein. Manchmal war ein Kopf darunter. Ausgemergelte Köpfe mit Haut wie Pergamentpapier und Augen wie verkohlte Aprikosenkerne. Die Flut riss Charles mit, nach draussen. Am Ende der Strasse sah er die Guillotine auf sich zuschwimmen. Das hohe Blutgerüst wankte, aber es kippte nicht. Es wollte zu ihm. Die Guillotine war unterwegs. Zu ihm.
    »Nein«, schrie Charles, »ich habe kein rotes Hemd,
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