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Der Henker von Paris

Der Henker von Paris

Titel: Der Henker von Paris
Autoren: Claude Cueni
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einen Henker wider Willen. Erzählen Sie schon, mein Schiff fährt heute Abend nach England zurück.«
    »Sechzehntausend Franc für die Maschine? Ich kann mich darauf verlassen?«
    Sie nickte.
    »Aber auch ich warne Sie, Madame, der Fluch wird Sie verfolgen und Ihr Museum in Flammen aufgehen lassen. Ihre Figuren sind doch aus Wachs, nicht wahr?«
    »Fangen Sie endlich an! Es gibt nichts, aber auch gar nichts, wovor ich mich noch fürchten könnte. Ich habe die Französische Revolution überlebt. Und zwei Ehemänner.«
    »Madame, ich werde Sie zum Weinen bringen.«
    »Daran ist noch keiner gestorben, fangen Sie an!«
    »Ich brauche Wein, Madame. Anders ist es nicht zu schaffen.«
    »Ich weiss, man hat mich gewarnt.« Sie nahm eine Flasche Rotwein aus ihrem Mantel hervor und stellte sie neben sich auf die Bank.
    Henri-Clément griff sofort danach, riss den Korken heraus und trank die halbe Flasche in einem Zug. Dann begann er zu erzählen: »Mein Grossvater Charles-Henri Sanson starb 1806 im Alter von siebenundsechzig Jahren. Meine Grossmutter überlebte ihn um elf Jahre …« Er setzte erneut zum Trinken an.
    »Monsieur«, sagte Madame Tussaud ungeduldig, »Sie sind ein erbärmlicher Trunkenbold. Geben Sie mir die Tagebücher, ich werde sie kaufen. Ich kann mir dieses larmoyante Gesabber nicht mehr länger anhören.«
    »Es gibt keine« erwiderte er, »es gibt Aufzeichnungen, wer wann und warum hingerichtet worden ist. Zudem Inventarlisten der Kleider der Getöteten. Ich habe den Text ergänzt mit Zeitungsberichten aus der damaligen Zeit, Augenzeugenberichten, Aufzeichnungen von emigrierten Franzosen …«
    »Ich weiss, dass es ein Originalmanuskript gibt. Ihr Grossvater führte eine Buchhaltung des Schreckens.«
    »Aber um es verständlicher zu machen, musste ich es etwas ausbauen. Ich erhielt dreissigtausend Franc dafür. Der Journalist d’Olbreuse hat mir etwas geholfen, für siebzehntausend. Und als die Druckerei noch Balzac beizog, gab’s gleich fünf neue Bände. Den Mann müsste man mit der Axt erschlagen, damit er aufhört zu schreiben.« Er kramte in seiner Tasche und zog ein Amulett hervor. »Mein Vater schenkte mir diesen Glücksbringer: eine geborstene Glocke. Aber sie brachte auch mir kein Glück. Ich schenke sie Ihnen, wenn Sie mir noch eine Flasche Wein geben.«
    »Ich pfeife auf Ihr Amulett und Ihre Memoiren, Monsieur. Es ist eh alles erstunken und erlogen. Zeigen Sie mir jetzt die Guillotine.«
    »Sie ist nicht da«, murmelte er und senkte den Kopf.
    »Wo ist sie?« Madame Tussaud war fassungslos.
    »Ich habe sie ausgeliehen.«
    »Ausgeliehen?«
    »Dem Pfandleiher, gleich hier um die Ecke, ich brauchte Geld. Ist das so schwer zu verstehen? Sie können die Guillotine haben, aber zuerst müssen Sie sie aus dem Pfandhaus auslösen. Das geht ganz einfach, ich habe es schon oft getan. Manchmal musste es Canler tun, der Chef der PariserSûreté. Er hat mir gedroht, dass er mich fristlos entlässt, wenn es noch einmal passiert. Jetzt ist es wieder passiert. Wir sollten uns beeilen, bevor er es erfährt. Wann fährt Ihr Schiff nach London?«

Nachwort
    Henri-Clément Sanson wurde am 18. März 1847 fristlos entlassen. Er hatte tatsächlich die Guillotine verpfändet. Seine Frau verliess ihn, er verfiel dem Alkohol und jungen Tänzerinnen und starb schliesslich 1889 im Alter von neunundachtzig Jahren.
    Madame Tussauds Museum in London wurde 1925 durch ein Feuer zerstört, drei Jahre später aber wiedereröffnet und 1940 durch eine deutsche Bombe in Schutt und Asche gelegt, wobei ausgerechnet Adolf Hitlers Büste zufällig verschont blieb.
    Charles-Henri Sanson führte während der Französischen Revolution Tagebuch. Er schrieb in einem nüchtern-trockenen Stil, der uns heute erschauern lässt. Es ist belegt, dass sein Enkel Henri-Clément Sanson diese Aufzeichnungen an den Journalisten d’Olbreuse verkaufte, der im Auftrag des jungen Druckereibesitzers Dupray nach einem Bestsellerstoff suchte. Dupray war ein visionärer Geist: Er revolutionierte Typographie und Verlagswesen und wollte mit einem Bestseller in ganz Frankreich für seine Druckerei werben. Es ist auch belegt, dass der junge Honoré de Balzac, der Henri-Clément Sanson persönlich kannte und befragte, einen Teil dieser Mémoires de Sanson als Ghostwriter schrieb. Dabei plünderte er diverse eigene Manuskripte seiner Comédie humaine, unter anderem Une messe en 1793 und Scènes de la vie politique et militaire. Wahrscheinlich erfand Balzacdie
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