Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Henker von Lemgo

Der Henker von Lemgo

Titel: Der Henker von Lemgo
Autoren: Bettina Szrama
Vom Netzwerk:
Stubentisch stand. Sein
Gesichtsausdruck mahnte den Gast, der ihm gegenübersaß, zur Vorsicht. Denn
Vorsicht war alle Tage geboten, da dem Dechen nur allzu schnell das ungezügelte
Temperament durchging und er gern die Wortgewalt der Zunge mit der Schlagkraft
seiner Fäuste verwechselte.
    Heute sprach aus
Cordts Miene seine Stimmung, ahnte er doch, weshalb der Pfarrer von St. Nikolai,
ein Freund des Hauses, zu dieser Stunde bei ihm eingekehrt war. Sein
Bäckerjunge Peter gehörte zu den achtzehn verurteilten Hexenkindern des
Schulmeisters.
    Verdrießlich führte
Cordt die Kanne zum Mund und nahm einen kräftigen Schluck von dem gelben,
leicht verderblichen Gerstensaft. Als er ihn mit Schwung wieder absetzte,
ergoss sich ein Teil des Gebräus auf das Lederwams, das seinen gewaltigen
Brustkorb bedeckte. Unwillkürlich rieb seine Hand, kräftig und breit und von
winzigen roten Härchen bedeckt, über das speckige Tuch. Dabei bemerkte er, dass
Hochwürdens Kanne noch voll war.
    »Sauft, Andreas!«,
forderte er ihn auf. »Gott, der Herr, wird’s Euch schon nachsehen.« Doch der
junge Pastor mit dem feinen Gesicht aus Milch und Honig drehte den Rosenkranz
zwischen den schmalen Fingern und schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu
sein.
    Der Deche – mit der
Kraft und Urwüchsigkeit eines Brauers – konnte es nicht verstehen, dass jemand
sein gutes Bier ausschlug. »Mit Messwein kann ich Euch nicht dienen,
Hochwürden«, schnaufte er beleidigt, zog dabei die dichten Brauen über der
breiten Nase zusammen und wartete auf eine Reaktion.
    Aber Andreas starrte
immer noch auf das Jesusbild über dem Kamin und hielt die Hände mit dem
Rosenkranz im Schoß gefaltet. Das prunkvolle Jesusgemälde im prächtigen
Goldrahmen spiegelte die Verbundenheit des Hauses Rampendahl zu St. Nikolai
wider. Obwohl Cordt wohlhabend war und sich zur intelligenten Oberschicht
zählte, hasste er allzu überflüssigen Luxus und legte Wert auf die
Bescheidenheit des einfachen Mannes. Einzig eine kleine Ausnahme gab es dabei:
einen schweren Ahorntisch mit prunkreichen Ornamenten, nachgestaltet dem Luxus
des französischen Hofes. Alle anderen Möbel waren praktisch in die dicken
Steinwände eingelassen. Wände, von Cordts Vater Ludeke mit eigenen Händen
erbaut, die der Vergänglichkeit trotzten, kühl im Sommer und warm im Winter
waren. Die Kanne an den Lippen und den Blick auf den Pfarrer gerichtet,
versuchte er von Neuem, Hochwürdens Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er gab
seiner Stimme einen freundlichen Ton.
    »Wollt Ihr mich
nicht endlich an Eurer Zwiesprache mit dem Herrn teilhaben lassen, lieber
Andreas?«
    Diesmal schreckte
der Geistliche aus seiner Versunkenheit auf und sah Cordt mit braunen Augen
fragend an. Das Talglicht auf dem Tisch flackerte und belebte die regelmäßigen
Züge. Es verlieh ihnen eine seltsame Ähnlichkeit mit denen auf dem göttlichen
Gemälde. Fasziniert von der Erscheinung, schlug Cordt unwillkürlich das Kreuz
vor der Brust. Die Ehre, mit Hochwürden an einem Tisch zu sitzen, ließ ihm vor
Stolz die Brust schwellen. Noch dazu saß der Herr Jesus Christus nicht zum
ersten Mal in Gestalt des Pfarrers an seinem Tisch und soff sein Bier. Andreas
war ein Sohn Gottes aus Fleisch und Blut, der furzte und sich des Öfteren in
der Nase popelte. Was für eine Ehre für Cordts Haus! Er legte die Stirn in
krause Falten und betrachtete erst Andreas’ lange Locken, die sich sanft um die
hohe Stirn wellten, und dann dessen schmales Gesicht mit den sanften,
melancholischen Augen, deren feiner Leidenszug ihn spontan an den Gottessohn
hatten denken lassen. Er fragte sich, ob der Herr diese Ähnlichkeit wohl so gewollt
hatte, als Andreas endlich zu einer Antwort ansetzte: »Entschuldigt die
Unhöflichkeit, Deche, aber meine Gedanken weilten wohl ein wenig zu lange bei
den Hexenkindern.«
    »Dann ehrt es mich,
dass ich Eure Aufmerksamkeit jetzt wieder habe«, grinste Cordt. »Dem Herrn sei
Dank, dass meine Tochter Maria nicht zu den achtzehn beklafften Kindern
gehört«, knurrte er erleichtert. Wochenlang hatte er um das älteste
Töchterchen, seinen Augenstern, gebangt und Himmel und Hölle in Bewegung
gesetzt, um es vor den Stadtbütteln zu schützen.
    Andreas runzelte die
dichten Brauen über der fein geschnittenen Nase. Der eben noch würdevolle Blick
verdunkelte sich und ruhte zweifelnd auf dem breiten Gesicht seines Gastgebers.
»Frohlockt nicht zu früh, Deche. Unter den Ratsmännern geht das böse Gerücht
umher, dass
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher