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Der Henker von Lemgo

Der Henker von Lemgo

Titel: Der Henker von Lemgo
Autoren: Bettina Szrama
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ihn holen kommen. Seit Jahren
ist er der liebste Gespiele unserer Töchter.«
    Stufen knarrten, aus
der Diele erklang lautes Kindergeschrei, und im gleichen Moment schob sich ein
groß gewachsenes Mädchen mit schmalen, biegsamen Hüften und langen schlanken
Beinen durch die Tür. Hinter ihr sträubte sich ihre jüngere Schwester aufs
Heftigste und schlug wütend mit der freien Faust auf die Hand ein, die sie
festhielt. Doch das größere Mädchen mit den unergründlichen Augen, so blau wie
der Grund des Meeres, störte sich nicht daran.
    »Margaretha hat mir
schon wieder eine Puppe zerrissen!«, schimpfte es und warf eine Puppe aus Seide
und Vliesflicken auf den Tisch. Aus dem hellen Stoffrumpf ragte büschelweise
das Stroh. »Hier, Vater! Seht selbst und straft sie gebührend!« Ihre Augen
verschleuderten Blitze, auf den Wangen glänzten Tränenspuren.
    »Wollt ihr Mädchen
nicht zuerst Hochwürden begrüßen?« Catharina griff nach der kleineren
Margaretha und zog die Protestierende energisch zu sich auf den Schoß. Das
Mädchen zappelte und versuchte sich zu befreien. Beruhigend strich Catharina
ihrer Tochter über den nussbraunen Scheitel. Die Achtjährige hatte ihr rundes
Gesicht und die grünen Augen geerbt und ließ sich nur schwer besänftigen. Erst
als Hochwürden ihr mit erhobenem Finger drohte, verbarg sie das Gesicht an der
Brust der Mutter und bohrte schmollend mit dem Finger in der Nase.
    Die ältere Maria
schien einen Augenblick lang zu überlegen, bevor sie züchtig die Augen senkte
und vor Hochwürden artig einen Knicks andeutete.
    Andreas lächelte
gnädig auf sie hinab und schlug über ihr das Kreuz. Dann fasste er ihr sanft
mit den Fingern unter das Kinn und hob ihren Kopf an, sodass sie ihm in die
Augen sehen musste. »Kennst du die Geschichte von Kain und Abel, mein Kind?« Er
staunte immer wieder über den seltsamen klaren Ausdruck in ihren blauen Augen.
    Maria nickte
schuldbewusst und hauchte einen Kuss auf die Gebetsschnur, die er ihr
darreichte. Sie war ganz das Abbild ihres Vaters, zugleich aber von solch
zarter Gestalt, dass man sie eher für einen jungen Burschen hätte halten
können, wären da nicht die langen Haare gewesen, die ihr bis zur Hüfte wallten.
    »Du bist ein schönes
Mädchen. Schön wie die heilige Magdalena. Aber du bist auch ungehorsam wie ein
ungebändigtes Pferd und ungestüm wie dein Vater. Dabei bist du die Ältere und
solltest deiner Schwester gegenüber Nachsicht üben. Du willst doch nicht im
Fegefeuer enden?«
    »Fegefeuer oder
Scheiterhaufen, was macht das schon für einen Unterschied, Hochwürden?«
    Mit einer solchen
Schlagfertigkeit aus dem hübschen Mund hatte Andreas nicht gerechnet.
Überrascht und zugleich erschrocken zog er seine Hand zurück und wechselte
einen vielsagenden Blick mit Cordt.
    »Das Kind führt eine
spitze Zunge. Woher nimmt es solche ungefälligen Worte?« Gleichfalls hob er
Marias Arm und besah sich stirnrunzelnd ihren von rotblauen Kratzern und
Schürfstellen übersäten Ellbogen.
    »Aus der
Knüppelschule«, knurrte Cordt. »Die Leute hetzen ihre Teufelsbälger auf mein
Töchterchen. Es ist ein wahres Glück, dass die Maria nicht auf den Mund
gefallen ist.«
    Maria bemerkte das
Interesse, das ihr entgegengebracht wurde, und fühlte sich in ihrem kindlichen
Stolz bestärkt. Rasch nutzte sie die Gelegenheit. »Keinen Fuß mehr setze ich in
Lindemanns Haus«, zeterte sie wütend. »Seitdem die hohen Herren meinen Schulmeister
mit Ruten geschlagen haben, behaupten alle, auch ich sei eine Hexe, und der
Schulmeister habe mir das Zaubern beigebracht. Sie bewerfen mich mit
Pferdeäpfeln und verbieten mir, Gottes Wort mit ihnen an einem Tisch zu
lernen.«
    Cordt drohte ihr spielerisch
mit dem Finger. »Ich habe aber auch gesehen, wie du die Tochter vom
Knochenhauer Vieregge an den Haaren gerissen hast. Und mit ihrem Bruder bist du
auch nicht gerade zimperlich umgegangen.«
    Statt eine Antwort
zu geben, verzog Maria das Gesicht, stampfte wütend mit dem Fuß auf und suchte
gekränkt nach den passenden Widerworten.
    »Versündige dich
nicht der Lüge, Jungfer Maria«, kam Andreas ihr zuvor. »Natürlich darfst du
weiterhin gemeinsam mit den anderen Kindern das Wort Gottes lernen. Dafür werde
ich sorgen.« Er schmeichelte ihr, indem er hinzufügte: »Ich habe gehört, dass
du von allen Kindern am besten schreiben und lesen kannst. Noch besser sogar
als dein Vater, der erst kürzlich die vorteilhafte Küsterstelle ausgeschlagen
hat, die ich ihm
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