Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition)
Autoren: Peter Handke
Vom Netzwerk:
Jemand, ein Kind, eine Frau, ein Alter, machte einen Hüpfschritt. Suchte jemand in der Menge die Augen des anderen? Aufsämtlichen Rolltreppen stockten die Leute sofort, auch die, welche eben noch gelaufen waren, und ließen sich fahren. Immer wieder welche, die rannten, zu mehreren, zu vielen, und es war kein Sport. Ein Feuerwerk, und noch eins – Feuerwerke? Wirklich? Waren die Menschen zum Krieg verurteilt, bis ans Ende der Zeit? Nirgends Blicke in so offener Feindschaft wie die von Eltern auf ihre Kinder. Und umgekehrt? Nein. Indem er der Liebe zu der Frau bisher ausgewichen war, hatte er ihrer beider Heiterkeit bewahrt. Oder nicht? Welche Sprache war das doch, in der man dem Wort für »Schmerz« einen Hauchlaut zufügte, und es hieß »Welt«? Weiß nicht. Weiß dafür anderes. Und dieses andere Wissen ist Macht – vielleicht.
    Und jetzt das Eichhörnchen von Nome, Alaska, das Eichhörnchen auf den Steinblöcken direkt an der Beringsee Richtung Rußland. Wie kam es zu solchen Bildern aus fernen Zeiten und Räumen? Weiß nicht, will es nicht wissen. Fest stand: Die unversehens still wiederkehrenden Orte, Dinge und Wesen waren Gesichte, die für die Zeit jetzt entsprechenden, Gesichte, die den Namen verdienten. Waren es die letzten einem Heutigen noch möglichen? Einige Takte Straßenmusik, aus kurzen schmetternden Trompeten und einer Klarinette, die Trompeten umspielendund übersteigend, geblasen von Leuten, welche nie mehr heimkehren würden, und noch nie irgendwo zuhause gewesen waren, Schall triumphaler Trauer. »Ich bin dabei. Packt mich am Schopf und transportiert mich weg von hier!« Ein paar Takte Musik genügten zum Innehalten. Sich am Schopf nehmen für einen anderen Stern? Nein, hier ist unser Stern.
    Was für ein Tag. Was für eine Nacht. Er wollte das laut sagen, wollte es schreien – es wäre sein erster Schrei gewesen –, doch er brachte kein Wort heraus. Hatte er die Stimme verloren? Wie sollte er am nächsten Tag seinen Part sprechen? Andererseits war der Amokläufer des Drehbuchs beinahe stumm. Einem, der sich, wie der Passant jetzt, mit dem Finger das Auge rieb, dem hätte der ohne ein Wort ebenden Finger in ebendas Auge gestochen. Der Held des am Morgen gelesenen Buches dagegen, nah dran, aus Wut über die Tücke der Objekte – auch nur des einen ihm entglitschenden Zitronenkerns – zum Amokläufer zu werden, hat sich am Abend mit den Dingen versöhnt – ist guter Dinge – und hält denen gar eine Dankesrede: »Danke, Apfelkerne, die ihr euch so leicht vom Boden habt aufheben lassen. Danke, Bleistiftmine, daß du heute nur einmal gebrochen bist. Danke, Schuhbänder, daß ihr mir heute nur zweimal aufgegangen seid …«
    Es drängte ihn, der Frau ein Geschenk mitzubringen. Nein, er war kein Geschenkemacher. Er wollte nur geben, augenblicklich. Ein Stuhl auf dem Trottoir, ein einzelner, aussortierter, hüpfte auf im Nachtwind, und er nahm ihn ein Stück mit. In der nächsten Straße hob er die Zettel auf, die daherwehten, Parkscheine, Kassenbons, Einkaufslisten, modrige Kinokarten (für Filme der vergangenen Monate, längst vergessene). Früher hätte sich unter all dem Zettelwerk etwas gefunden zum Lesen, zum Studieren, zum Mitbringen. Ein sich umschlingendes Paar ging vorbei, und abermals wurden Worte hörbar, als der Mann zu der Frau sagte: »Mein Apfel!«
    Einmal, in seiner Theaterzeit, hatte der Schauspieler im Text nicht weitergewußt und war zwar nicht erstarrt, aber auf der Stelle geblieben, mit vornüber gefallenem Kopf, reglos, bis der Vorhang zuging. So trat jetzt ein Mann, ein sehr junger, aus einem Haus auf den Gehsteig. Er blieb vor der Tür stehen, und ein Schlüsselbund fiel ihm aus der Hand. Er ließ ihn nicht nur liegen, es entglitt ihm auch noch der Aktenkoffer, oder Computer, oder was es war, und krachte zu Boden, ebenso ein Mobiltelefon, oder war es ein Brillenetui? Der junge Mann machte keine Anstalten, sich nach den Sachen zu bücken, ging aber auch nicht weg, stand bloß so da auf dem nächtlichenGehsteig. Dem Schauspieler wäre im Zuschauen um ein Haar das eigene Telefon, oder was er gerade in der Hand hielt, entfallen, und die Erstarrung des anderen stülpte sich über ihn. Dann gab er sich einen Ruck, wich von seinem Weg ab – da durfte er das –, klaubte das Verstreute vom Trottoir und drückte es, ein Ding nach dem andern, dem jungen Menschen an Brust und Arme, gebieterisch. Er, der Schauspieler, verkörperte jetzt die Macht, war der Ortsälteste. Das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher