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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition)
Autoren: Peter Handke
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(Unwillkürlich die Vorstellung dabei von Frostatemwolken.) Nur in den Bussen saßen allmählich weniger, und während tagsüber die Mehrheit in die oberen Etagen gestiegen war, blieben die paar nächtlichen Passagiere sämtlich in den unteren. Das eine Gesicht, das der Frau, hatte genügt, und er nahm in der Folge noch und noch solche wahr, und das war kein Trug, wie etwa beim Anblick einer Schlange, wonach man auf Schritt und Tritt noch und noch Schlangen sich schlängeln sieht. Mag sein, daß er das Seine dazutat, daß er den Leuten in der Menge ein Gesicht machte, daß es bei dem Gesichterannehmen der Menge auf ihn ankam, den Schauspieler. Er ging jetzt den Weg der Frau, einen ihrer täglichen Wege, und das mit Bedacht. Und für den Umlauf einer Sekunde blitzte es in und vor ihm auf, den Weg des, der anderen zu wiederholen, das hätte vorzeiten einmal zum »Liebesdienst« gehört.
    Zugleich war er auf der Hut. Es waren Mörder und Gewalttätige unterwegs, unerkannt. Aber er erkannte sie, und sie, sie durften nicht spüren, daß er sie erkannte. Sie wären sonst augenblicks über ihn hergefallen. Einer, der sich so entlarvt sah, stellte ihm im Vorbeigehen ein Bein, und eine kehrte hinter ihm um, boxte ihn in den Rücken, schrie, warum er sie so anschaue – der einzige hörbare Satz auf dieser Strecke –, und war davon. Er durfte nichts mehr riskieren. Sonst kein Tänzer, übte er den Ausweichtanz. Und einmal riskierte er dann doch etwas, indem ereigens auf so einen Killer losging – der auf der Stelle beiseite sprang und sich duckte, katzenhaft. In einem Film hätte eine Großaufnahme sein erschrecktes Gesicht gezeigt. Hier in der Wirklichkeit stammelte der Killer dafür etwas wie eine Entschuldigung.
    In seiner Vorstellung stand er kurz davor, nach einer schwierigen Expedition ans Ziel zu gelangen. Dieses in Sicht, war man versucht, leichtsinnig zu werden, und gerade so konnte es passieren. Wie passieren? In dem Sinn, wie da an einer Kreuzung eine junge Mutter über die Straße ging, ihr Kind, das die längste Zeit schon brüllte, weil es nicht mehr weiterkonnte oder -wollte, stehen und brüllen ließ, sich eine Zigarette anzündete und ohne sich nach ihm umzudrehen jenseits der Kreuzung ihren Weg fortsetzte, und wie das Kind nun aufheulte, wie schon Milliarden von Kindern seit der Nacht der Zeiten aufgeheult hatten, und doch erstmals jetzt in dieser Nacht, und dazu der Gedanke: »Da passiert es.«
    Ihm durfte es nicht passieren, und so senkte er den Blick wieder zum Asphalt, zum Teer und zu den Pflastersteinen und wich, sowie er Gefahr witterte, aus schon im voraus und schlug Haken, was gegen seine Art war. Sein Hin und Her über den Fluß war kein Flanieren. Als in einer stillen Straße ein wüstes Bellen und Knurren laut wurde, und unversehens eine ganze hundertköpfige, wie tausendschwänzige Hunderotte einbog und auf ihn zuschoß, behielt er die Ruhe, indem er, in Gedanken an die Sage von dem altgriechischen Schauspieler und Sänger (Name? »weiß nicht mehr«), welcher von solch einer Meute zerrissen worden war, sich sagte, jenen hätte er, als er, weder auf einer Bühne noch im Film je darstellen können, und sogar diese wilden Hunde würden das wittern und ihn vorbeilassen – wie es dann auch geschah. Einer der Hunde lief gar eine Zeitlang neben ihm, als hielte er ihn für seinen verlorenen Herrn.
    Weniger Licht hätte er sich gewünscht für sein Näherkommen ans Ziel. Aber das war eine Stadt der Lichter, und es herrschte, auch in den Seitenstraßen, eine Helligkeit, vor der, so dachte er, »kein Entkommen war«. Es war hell wie am Tag, und doch ganz anders, statt des Himmels in der Höhe, schon auf der halben, nur noch Schwärze. Er dachte an die Geschichte von den Schildbürgern, die glauben, mit Eimern oder Scheffeln das Tageslicht in fensterlose Häuser tragen zu können, und stellte sich umgekehrt eine Szene vor, in der Finsternis in die gar grelle Helligkeit gescheffelt würde.
    In dieser Helligkeit begegnete er einem Sterbenden, der, scharf ausgeleuchtet, wie auch die Leute, die ihn umstanden, auf den Bodenkacheln eines Metroeingangs lag. Obwohl der Schauspieler nirgends stehenblieb, war es eine Begegnung. Es begegneten sich ihrer beider Augen. Der Sterbende hatte ihn angeblickt, groß, als habe er auf ihn gewartet. Woher er wußte, daß da einer im Sterben lag? Er wußte es, so etwas wußte er noch. Und er wußte auch, daß das kein Blick um Hilfe gewesen war. Diese reglosen, aber noch nicht
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