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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition)
Autoren: Peter Handke
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gebrochenen Augen hatten ihm bedeutet: Ich erkenne dich. Du bist erkannt! Und sie sagten ihm das noch, als er weitergegangen war, und würden es ihm sagen bis zur Stunde seines eigenen Todes. Erkannt war der Schauspieler von dem Sterbenden nicht als derjenige welcher, wie zuvor in der Dunkelsphäre. Sondern? »Er hat mich erkannt, und das war alles.« Und er fügte dann, in seinem Selbstgespräch, hinzu: »Diese Augen haben mir wohlgewollt. Sie wollen mir wohl. Sie werden mir wohlgewollt haben. – Aber ob es nicht schon zu spät ist?« Und auf offener Straße, inmitten der Menge, bekreuzigte er sich, wobei ihm einfiel, daß er sich schon einmal so, mit einer derart weitausholenden Gebärde, bekreuzigt hatte. Wo? Nicht in einer Kirche. Sondern? Vor dem Betreten eines Kinderzimmers. Und nun war er dankbar für die Helligkeit in der Stadt der Lichter,wo jeder Winkel ausgeleuchtet war, wo Lichtstrahlen ausgingen von den leer und leerer vorbeifahrenden Bussen bis in die Augenhöhlen des Sterbenden. Er vergaß die Gefahr. Kein Hakenschlagen mehr. Ab jetzt nur noch geradeaus, im Nachtwind. »He, Häuptling Nachtwind!« sagte er, fast gesungen.
    An der Tür eines im Vergleich mit denen daneben winzigen Hauses mitten in der Stadt Ballons für einen Kindergeburtstag, und aus dem Innern ein Lachen, gar nicht müde für die späte Stunde, mit einem Aufschwung darin, daß man sich eine Lerche vorstellte, nicht deren Stimme, sondern das Aufsteigen des Vogels, Stufe um Stufe, hoch hoch hinauf in die Lüfte.
    Dagegen das Gelächter auf der Straße: Man wollte sich ja mitfreuen, nur: womit? Man verstand es nicht, das Lachen, da und dort in der Menge, man konnte sich nichts dazu vorstellen, und es steckte nicht an. Wie hatte in der Kindheit ein Lachen anstecken können, insbesondere eins, das von der Bühne kam, zum Beispiel von einem der Zaubermärchen. Dabei war es sein Ernst, von Grund auf, der ihn zum Schauspieler bestimmt hatte. Durchdrungen vom Ernst, sehnte er sich nach dem Lachen.
    Auffällig, wieviel Seufzen auch von den fast durchweg jungen Passanten hörbar wurde, aus dem sich durch sein zügiges Gehen eine Art Seufzerchor bildete, nicht unähnlich dem der Alten an der Peripherie. Dazu noch so ein verständlicher Satz, ein einziger: »Sie kennen keine Barmherzigkeit.« Die Myriaden kreuz und quer gezogener Rollkoffer fielen, wenn sie vom glatten Asphalt auf einen Pflasterstreifen rollten, ebenfalls ins Sprechen: Was sagten sie? Im Asphalt der Avenuen und Boulevards Panzerspuren, von dem vorigen Krieg? von der Parade des Nationalfeiertags? Aus gar nicht so großer Ferne, wie näher kommend, Gebrüll, als ob da welche umgebracht werden sollten, nein, von einem Fußballplatz, und das Gellen dazwischen, das waren die Pfiffe des Schiedsrichters. Eine offene Kirchentür, im bis auf den letzten Platz vollen Innenraum, womöglich noch heller als die Flutlichtplätze, eine Spätabendmesse, gerade das Vaterunser, mit der nie gehörten Variante: »… und erlöse uns von uns, dem Übel!« Oder hatte er sich verhört? Nein, das war keine Messe. Das waren nur welche, viele, viele, da war eine Menge, die Menge, zusammengeströmt zum Gebet, einem stürmischen, mehr und mehr wie mit einer Stimme hinausgeschrienen, die Leiber der Beter dicht an dicht: Kein Spalt mehr für einen Durchschlupf der bösen Geister draußen! Verzweifeltes Beten? Nein, diesesBetgeschrei war kein verzweifeltes. Ein verzweifeltes Beten, das gab es nicht.
    In einem Park oder Square – auch da keine Stelle, die nicht taghell war – zwei Junge, oder Kinder, eins größer, eins kleiner, auf einer Schaukel, eins auf den Knien des andern, und die zwei Beinpaare ein jedes in die Gegenrichtung gestreckt: noch ein Buchstabe, ein noch nie so gesehener, ein neuer im Alphabet.
    Viele Verirrte, denen er, der Ortsfremde, im Vorbeigehen den Weg wies. In die Irre? Und wenn. Wie oft hatte sein Vater sich verirrt: was dem Sohn sofort klar war, und dennoch war er ihm jeweils gefolgt.
    Ein Schaufenster mit nichts als Äpfeln, welche die Nacht womöglich noch heller machten, oder anders hell. An einer Ampel die Schöne und das Monster, sie hier, er dort, und bei Grün mitten auf der Straße: das Paarwerden. Noch so eine Frau ging dahin, und all die müden Sitzer, ob auf den Caféterrassen oder an den Bushaltestellen, hörten mitten im Gähnen zu gähnen auf, und der eine, der weitergähnte: ein Blinder. Jemand, ein Erwachsener, ein Kind, schrieb mit dem Finger in die Nachtluft.
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