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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition)
Autoren: Peter Handke
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getan, schloß er den Fremden in die Arme, und der, wortlos, als sei sein Retter Luft, machte sich frisch auf den Weg.
    Danach auf einer Bank eine Frau, eine ebenfalls sehr junge, die soeben verlassen worden war, und die wußte, es war für immer. Die Verlassenheit würde mit ihr bleiben bis ans Ende der Tage. Für sie gäbe es nie wieder jemanden. Und außerdem hatte sie heute ihre Arbeit verloren; und ihre Ersparnisse schon früher. Es war aus mit ihr, endgültig. Sie weinte. Oder lachte sie vielmehr, lautlos, über das ganze Gesicht? Merkwürdig: So wie welche in der Freude Tränen vergossen, so lachten welche im Schmerz? Jammer. Universum des Schmerzes. Er konnte doch nicht zu der fremden Frau hin und auch sie noch in seine Arme schließen? Ja, alle umarmen, als Niemand. Am stärksten hatte er seit jeher gewirkt, wenn erentschieden der Niemand wurde, der Schauspieler, und gewirkt weniger als Tätiger denn als Vermeider, gerade er, der frühere Handwerker. Wie war er einmal stolz gewesen, auf seine Berufe, auf beide! – Sie umarmen? Aber es war ihr doch nicht mehr zu helfen. Und, wie so oft schon, war er nah dran, unter der Last des fremden Elends zusammenzubrechen. Und daß ihr nicht mehr zu helfen war, erfüllte ihn statt dessen mit wilder Wut, auf sie, die Verlorene. Sich auf sie stürzen und ihr ein Messer in den Leib rennen, wie, »leider nur in Gedanken«, am Vormittag dem Präsidenten. Und um ein Haar hätte er das getan.
    Im Gehen wählte er die Nummer der Einen. Wie konnte es beseelen, nichts zu tun, als zu zählen, bewußt mit Zahlen umzugehen. Und wie beseelen konnte die Stimme eines Menschen, Seltenheit bei all den Stimmen. Sie sprach ihn sofort an, er brauchte gar nicht den Mund aufzumachen oder sich gar den Telefonhelm über den Kopf zu stülpen. Ihre Nachtarbeit war getan, und sie erwartete ihn am Platz einer der Kathedralen der einstigen Königsstadt, vor der »Bar du Destin«; die »Bar de l’Espérance« daneben war nichts für sie beide.
    Dann noch so ein Riesen-Bildschirm, ohne Ton, und das Bild wieder so ein bloßes Schema, ein ins Vieltausendfache vergrößertes Computerspiel, welches eine Art Radarschirm war, in der Kanzel eines Bomberflugzeugs, und in der Mitte des Schirms, in Abständen, die schematischen Einschläge der »Bomben«, was aus der Ferne ein Herz darstellte, Schlag auf Schlag. Hast du’s gesehen, umkurvten dazu den Platz, wieder einen runden, Busse, andere als die gewohnten, verdunkelte, gar völlig schwarze, auch längere, lautere, und dazu, war das ein Scherz? gingen auf einmal viele Passanten wie im Sturmschritt, mit geschwärzten Gesichtern, während andere – ein Film? ein Nachtdreh? – einen Gang annahmen wie Mannequins auf dem Laufsteg, und zwischen diesen beiden Armeen die Vereinzelten, die Obdachlosen, die sich dahinschleppten, samt ihrem Hausrat-ohne-Haus, gestopft in das Dutzend der Plastiktaschen, unterwegs zu ihrem Nachtlager unterm freien Himmel als Ein-Mann-Karawanen, Mützen auf den Schädeln im Hochsommer. Schwarz folgte auf Schwarz, Vermummte folgten auf Vermummte – selbst die Hände vermummt –, Masken auf Masken, Tätowierte auf Tätowierte, tätowiert selbst die Kniekehlen. Würde mein Schauspieler jetzt weinen, so müßte er daran sterben. Warum eigentlich nicht? Die Alaskafrau hatte einmal gemeint, sein ganzesWesen bestünde aus ungeweinten Tränen. Leute kamen aus einem Kino, der letzten Vorstellung. Weinte einer? Einige – die sich die Tränen flugs abwischten. Gegenüber einer, der ebenfalls weinte, nur andere Tränen. Der Schauspieler schlug sich im Vorbeigehen die Faust an die Stirn und wollte mit dem Kopf gegen eine Mauer rennen, oder wollte sich auch das Gesicht schwärzen, nur anders als die Menge.
    Statt dessen wurde er zum Jongleur, mit zwei Äpfeln, hoch hinauf in die Schwärze, und jedesmal fing er sie, kein Apfel fiel ihm aus den Händen. Er war also immer noch der gute Fänger und nicht nur Werfer, Werfer und Fänger in einer Person, in der Nacht gleich wie am Tag, der Fänger schlechthin? Er wünschte sich ein Fabeltier, mitten in der Metropole, mitten in der Nacht – und da war es: ein Rabe, sein Wappentier, oben auf einer Fensterbrüstung. Hast du Worte! Ein Rabe, in der Nacht. Aber warum bewegte der sich nicht, reglos die Krallen um das Geländer, genauso reglos Kopf wie Schnabel? Es war eine Attrappe, am Fenster angebracht zum Verscheuchen der Tauben. Dann doch ein Rabe, ein lebendiger, sich aufschwingend vom Boden
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