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Der goldene Thron

Titel: Der goldene Thron
Autoren: Katia Fox
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gähnende Leere über die Erde, kein Himmelreich mit einem allmächtigen Gott, kein Paradies mit Engeln. Kein Stern leuchtete dort oben, nur das zitternde Licht der Fackeln am Tor erhellte die Nacht.
    Heftiges Herzklopfen und die feuchtkalte Novemberluft hielten Guillaume eine Weile wach, doch schon bald legte sich Müdigkeit wie ein Mantel aus Blei auf seine Schultern. Leise, damit ihn die Wachsoldaten nicht hörten, begann er, das Heldenlied von Roland zu rezitieren. Wenn sein Herr Gäste empfing, wurde es häufig vorgetragen. Ein Lautenschläger spielte dazu auf, und wenn die Männer genügend getrunken hatten, sangen sie lautstark mit, spielten die kühnen Abenteuer Rolands mit spaßiger Mimik und pathetischen Gesten nach oder brüsteten sich mit ihren eigenen Heldentaten. Guillaume reckte das Kinn. Er war fest entschlossen, auch einmal ein Held zu werden. Ein Held wie Roland. Ein Held, über den ein Lied gedichtet werden würde. Überall sollte man es singen, in den Hallen auf dem Festland ebenso wie im fernen England, der großen Insel, die seine Heimat war.
    Er straffte sich. Das Lied von Karl dem Großen, von Rolandund den zwölf Recken war lang, sehr lang, darum hatte er sich nur die schönsten, glorreichsten und spannendsten Verse gemerkt. Jene, die von Verrat erzählten, vom Kampf mit Marsilia und von Durendal, Rolands berühmtem Schwert.
    Als endlich der Morgen graute und mit feinsten Lagen, die wie Stoffbahnen in den schönsten Purpurfarben aussahen, den Horizont schmückte, begann das dunkle Blau des Firmaments zu leuchten und immer heller zu werden, ganz so, als wasche der aufgehende Tag den Himmel rein. Guillaume verstummte über dem prächtigen Farbenspiel. Feuchtkalte Schwaden zogen über den Hof, und obwohl er den Fluss von diesem Fleck aus nicht sehen konnte, wusste er doch, dass der Nebel der Seine entstieg und – einem lauernden Tier gleich – über die Felsen kroch. Seine Kleider waren klamm, und ihn fröstelte. Auch erschien ihm der Sandsack nunmehr schwer wie der Kopf eines toten Ochsen. Trotzdem würde er noch lange nicht herabsteigen. Guillaume biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen das Zittern seiner Arme an.
    Elf, vielleicht zwölf war er gewesen, als ihn der Vater hergeschickt hatte, damit er es seinen älteren Brüdern gleichtat und Ritter wurde. Alles in Tancarville war ihm fremd gewesen, auch das französische Normannisch. In England hatten zwar seine Eltern und die Lords und Würdenträger so gesprochen, die Dienstboten, Bauern und Knechte auf Marlborough Castle aber hatten ebenso wie seine Amme und ihre Söhne Englisch mit dem ihm so vertrauten Wiltshire-Akzent gesprochen. Als Nachgeborenem war ihm keine große Zukunft bestimmt. Nicht einmal ein kleines Landgut hatte der Vater für ihn vorgesehen, darum musste er umso dankbarer sein, dass man ihn zum Kammerherrn der Normandie geschickt hatte, einem Vertrauten des Königs, der über die Grenzen des Landes hinaus berühmt war für den großartigen Ritternachwuchs, den er ausbildete.
    »Frühstück!«, rief ein Page, lief auf ihn zu und streckte die Zunge heraus, als Guillaume zusammenzuckte. Dann zog er ihm eine lange Nase und rannte davon.
    Guillaumes Magen knurrte laut.
    »Hier, magst du?«, fragte ein altes Weib mit einem wollenen Schultertuch, das sie vor der morgendlichen Kälte schützen sollte, und streckte ihm einen kleinen Apfel hin.
    Guillaume schüttelte leicht den Kopf und schwankte. Er würde den Sandsack nicht mit einer Hand halten können und musste verzichten.
    Die Alte warf ihm einen mitleidigen Blick zu und trollte sich dann. Zwei verschlafen aussehende Knechte schlurften kopfschüttelnd an ihm vorüber, und die Pagen und Knappen, die mit dem Tageslicht aus allen Ecken herbeiströmten, liefen munter schwatzend an ihm vorbei zur Halle. Sie würden sich den Bauch mit Grütze vollschlagen, während Guillaume hier ausharren musste. Trotzdem beneidete er sie nicht. Eines Tages würde er der größte Ritter sein, den das Land je gesehen hatte! Er streckte den Hals und bog den Kopf einmal zur einen, dann zur anderen Seite, bis es in seinem Nacken laut krachte. Er musste Haltung bewahren, auch wenn sein Rücken schmerzte und seine Zehen vor Kälte kribbelten.
    Lange stand er einfach nur da und blickte geradeaus. Das braune Haar fiel ihm wirr über die Stirn bis in die Augen, doch er beachtete das Kitzeln nicht. Der schmale Baumstumpf bot kaum genügend Platz für seine beiden Füße und gestattete ihm nicht die
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