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Der gleiche Weg an jedem Tag

Der gleiche Weg an jedem Tag

Titel: Der gleiche Weg an jedem Tag
Autoren: Gabriela Adamesteanu
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sich nachsichtig gab. Nach einer Zeit trottete er mit schweren Schritten aus dem Zimmer. Sie kamen zusammen zurück, gestikulierten, tuschelten, und ich konnte mir ihre Gesichter vorstellen, obwohl ich mit dem Rücken zu ihnen saß. Das ärgerte mich, und ich rief mit dem Recht meiner gerade erst gewonnenen Überlegenheit: »Hört doch endlich auf, wie soll ich denn bei diesem Getue etwas lernen? Wäre ich doch bloß im Internat, dort lässt man die Leute wenigstens in Ruhe lesen.«
    Das sagte ich so dahin, nur allzu gut kannte ich das alte Internatsgebäude, die wie von einem Feuer geschwärzten, bekritzelten und zerkratzten Bänke, die bei jeder Bewegung knarrten, die überhitzte, verbrauchte Luft, die nach Kohleofen und Schuhen stank. Außerdem wohnte ich ja in der Stadt, und das war eines der wenigen Privilegien, deren ich mir bewusst war. Mutter verzog sich an ihren Platz in der Küche, Onkel Ion setzte sich ans andere Ende des Tisches und bereitete seinen Unterricht für den nächsten Tag vor, wobei er mit dem Fuß wippte. Irgendwann hörte ich auf zu lesen, der Rauch der Zigarette, die er in dem kleinen Aschenbecher aus blindem Silber vergessen hatte, setzte mir böse zu, und das unablässige Wippen seines Fußes zog mich in seinen Bann. Ein ungutes Gefühl wie Schädelbrummen ließ mir keine Ruhe, und plötzlich merkte ich, wie leid es mir tat, dass ich ihn angeschrien hatte. Heimlich streckte ich unter den sorgfältig in Papier eingeschlagenen Büchern die Hand aus. Ich war sicher, Onkel Ion würde nichts merken, dann aber hörte ich ihn sagen: »Lass den Dostojewski, in der Prüfung werden die dich nicht nach ihm fragen. Oder willst du etwa hier bleiben und auf dem Korso dein Leben fristen?«
    Es war der erste Roman von Dostojewski, der in Rumänien veröffentlicht worden war, ich wusste nur vom Hörensagen etwas über ihn und hatte, noch bevor ich ihn aufschlug, entschieden, dass er großartig sei und mir gefallen würde. Beim Lesen verkniff ich mir das Eingeständnis, dass ich enttäuscht war, und bildete mir gewissenhaft allerhand Offenbarungen ein. »Ich schaffe die Prüfung eh nicht«, trumpfte ich unsicher auf.
    Mit meiner schlechten Akte hatte ich in der Tat alle Aussichten durchzufallen. Irgendwie erhoffte ich mir das sogar und nahm mir vor, in eine andere Stadt zu gehen und in einer Fabrik zu arbeiten, wie es in vielen Büchern stand, die ich gelesen hatte, und auch in den Zeitungen. Ich würde dann nicht mehr mit Onkel Ion und Mutter zusammenwohnen, müsste nicht mehr daran denken, dass ich sie, wenn ich durch die Aufnahmeprüfung fiel, zum Gespött der ganzen Stadt machte. Vor allem aber würde dort ständig allerhand Unvorhergesehenes auf mich zukommen, und meine Zeit würde nicht wie jetzt im Alltagstrott versickern. Dann mündete jedoch meine Furcht vor den Herausforderungen, die mich erwarteten, gleich wieder in Zweifeln, und ich sagte mir schnell, dass so etwas viel zu ungewöhnlich sei, als dass es mir passieren könnte.
    Â»Nichts als Flausen hast du im Kopf«, bemerkte Onkel Ion abschätzig, als ich ihm einmal etwas von diesen Gedanken andeutete. »Was willst du in einer Fabrik? Siehst du denn nicht, dass du alles kaputtmachst, was du in die Hand nimmst? Lern lieber anständig kehren.«
    *
    Abends ging ich oft mit Onkel Ion auf den Markt, wir verweilten lange in der Halle, wo die Stimmen der Schlangestehenden, die dumpfen Axthiebe auf den blutüberströmten Hackklötzen und der schmatzende Aufprall der Fleischstücke auf dem fettverschmierten Blechüberzug der Theken mächtig widerhallten. Gegen Ende des Sommers irrten wir endlos zwischen Bergen gestreifter Melonen an der hinteren Mauer des Marktes herum, wo die Stadt sich unvermittelt zum Fluss neigte mit engen Gässchen, in denen Buden, noch im privaten Besitz, in ihren staubigen Schaufenstern Kerzen aller Größen, grell schimmernde Bettdecken in Blau und Rosa, Eisenwaren oder Hochzeitskleider zum Ausleihen feilboten.
    Â»Wo kommen die her?«, fragte Onkel Ion und tastete mit seinen starken Fingern die Melonen ab in Erwartung eines frischen Knackens. »Aus der Vlaşca, aber woher genau?« Er verharrte dann, die Melone in den Händen, während der Bauer, dessen unrasierter knorpliger Hals aus dem für die Stadt gefältelten Kragen seines grobgewebten Leinenhemdes ragte, mit
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