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Der Glanz des Mondes

Der Glanz des Mondes

Titel: Der Glanz des Mondes
Autoren: Lian Hearn
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Holzfußboden des Pavillons Platz genommen hatten.
    »Du solltest nicht so offen über Gott sprechen«, schalt ich ihn. »Du befindest dich in einem Tempel. Die Mönche hier haben nicht mehr für die Verborgenen übrig als die Krieger.«
    »Aber Sie sind hier«, murmelte er. »Sie sind unsere Hoffnung und unsere Sicherheit.«
    »Ich bin nur ein Einzelner. Ich kann nicht jeden von euch vor der Geisteshaltung eines ganzen Landes schützen.«
    Er schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Der Geheime Gott denkt die ganze Zeit an Sie. Auch wenn Sie ihn vergessen haben.«
    Solche Botschaften wollte ich mir nicht anhören.
    »Was hast du mir zu sagen?«, fragte ich ungeduldig.
    »Die Männer, die Sie letztes Jahr kennen lernten, die Köhler, haben ihren Gott wieder auf den Berg zurückgebracht. Ich traf sie auf dem Weg. Sie berichteten mir, dass die Otoriarmeen ausgeschwärmt sind und jede Straße zwischen Terayama und Yamagata überwachen. Ich ging hin, um mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen. Überall sind Soldaten versteckt. Sie werden aus dem Hinterhalt angreifen, sobald Sie aufbrechen. Wenn Sie den Tempel verlassen wollen, werden Sie sich Ihren Weg durch die Soldaten erkämpfen müssen.«
    Seine Augen fixierten mich und prüften meine Reaktion. Ich verfluchte mich innerlich, so lange im Tempel ausgeharrt zu haben. Mir war die ganze Zeit bewusst gewesen, dass Schnelligkeit und Überraschung meine Hauptwaffen waren. Wir hätten schon seit Tagen aufbrechen müssen. Ich hatte es immer wieder aufgeschoben, um auf Ichiro zu warten. Vor meiner Heirat war ich Nacht für Nacht hinausgegangen, um die Straßen rund um den Tempel zu überprüfen. Doch seit Kaedes Ankunft hatte ich mich von ihr nicht mehr losreißen können. Nun war ich durch meine eigene Zögerlichkeit und mangelnde Wachsamkeit in die Falle getappt.
    »Was schätzt du, wie viele Männer es sind?«
    »Fünf- oder sechstausend.«
    Ich hatte nicht mal tausend.
    »Also müssen Sie den Weg über die Berge nehmen. So wie letzten Winter. Dort gibt es einen Pfad, der nach Westen führt. Niemand überwacht ihn, weil auf dem Pass noch Schnee liegt.«
    Meine Gedanken überschlugen sich. Ich wusste, welchen Pfad er meinte. Er führte an dem Schrein vorbei, in dem Makoto den Winter verbringen wollte, ehe ich auf meiner Flucht nach Terayama aus dem Schnee zu ihm hereingestolpert war. Ich hatte den Pfad selbst einige Wochen zuvor geprüft und war umgekehrt, als der Schnee zu tief wurde, um zu Fuß weiterzukommen. Ich dachte an mein Heer, Männer, Pferde, Ochsen; die Ochsen würden es nie und nimmer schaffen, die Männer und Pferde vielleicht. Ich würde sie möglichst in der Nacht losschicken, damit die Otori dachten, dass wir noch im Tempel waren… Ich musste auf der Stelle handeln, mich umgehend mit dem Abt beraten.
    Meine Überlegungen wurden durch Manami und einen der männlichen Bediensteten unterbrochen. Der Mann trug eine Schale mit Wasser. Manami brachte ein Tablett mit einer Schale Reis und Gemüse und zwei Tassen mit grünem Tee. Sie setzte das Tablett am Boden ab und starrte Jo-An dabei mit so viel Abscheu an, als wäre er eine Viper. Die Reaktion des Mannes war ebenso entsetzt. Ich fragte mich einen kurzen Moment, ob es meinem Ansehen schadete, wenn andere sahen, dass ich mich mit Ausgestoßenen abgab. Ich befahl ihnen, uns allein zu lassen, und sie beeilten sich, es zu tun, doch ich vernahm Manamis entsetztes Gezischel den ganzen Weg zurück zum Gästehaus.
    Jo-An wusch sich Gesicht und Hände, dann legte er die Handflächen aneinander, um das erste Gebet der Verborgenen zu sprechen. Selbst als ich merkte, dass die vertrauten Worte etwas in mir anrührten, überkam mich eine Welle der Wut. Wieder hatte er sein eigenes Leben riskiert, um mir diese wichtige Nachricht zu überbringen, aber ich hätte mir mehr Zurückhaltung von ihm erwartet, und meine Stimmung verschlechterte sich bei dem Gedanken daran, dass ich mich ihm gegenüber künftig vielleicht verpflichtet fühlen würde.
    Als er das Mahl beendet hatte, sagte ich: »Es ist besser, du gehst jetzt. Du hast einen weiten Heimweg vor dir.«
    Er reagierte nicht, setzte sich aber auf, den Kopf leicht zur Seite geneigt, in jener aufmerksamen Haltung, die mir inzwischen so vertraut war.
    »Nein«, erwiderte er schließlich. »Ich werde mit Ihnen gehen.«
    »Das ist unmöglich. Ich möchte dich nicht dabeihaben.«
    »Gott möchte es«, sagte er.
    Es gab nichts, was ich tun konnte, um ihn davon abzuhalten, außer ihn
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