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Der Glanz des Mondes

Der Glanz des Mondes

Titel: Der Glanz des Mondes
Autoren: Lian Hearn
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unser beider Gewänder, um ihre Haut an meiner zu spüren. Sie rief Manami herbei, damit sie das Licht löschte. Der rauchige Geruch der Öllampen hing immer noch im Raum, als die Schritte der Dienerin verklungen waren.
    Inzwischen kannte ich alle nächtlichen Geräusche des Tempels: die Zeiten vollkommener Stille, die in regelmäßigen Abständen durch das gedämpfte Tappen von Füßen unterbrochen wurden, wenn die Mönche in der Dunkelheit aufstanden, um zu beten; die leisen Sprechgesänge, der plötzliche Ton einer Glocke. In jener Nacht jedoch war der sonst so gleichmäßige, harmonische Rhythmus gestört durch die Geräusche der unablässig kommenden und gehenden Menschen. Ich fand keine Ruhe, fühlte mich verpflichtet, bei den Vorbereitungen dabei zu sein, und konnte mich dennoch nicht von Kaede losreißen.
    Sie flüsterte: »Was bedeutet es, ein Angehöriger der Verborgenen zu sein?«
    »Ich bin mit bestimmten Glaubensregeln aufgewachsen; das meiste davon habe ich abgelegt.« Noch während ich es sagte, spürte ich ein Kribbeln hinten im Nacken, als hätte mich ein kalter Hauch gestreift. Stimmte es wirklich, dass ich den Glauben meiner Kindheit verworfen hatte - einen Glauben, für den meine Familie lieber gestorben war, als ihm abzuschwören?
    »Es heißt, Iida strafte Lord Shigeru dafür, dass er zu den Verborgenen gehörte - und auch meine Verwandte, Lady Maruyama.«
    »Shigeru hat darüber nie mit mir gesprochen. Er kannte ihre Gebete und sprach sie, bevor er starb, aber sein letztes Wort war der Name des Erleuchteten.«
    Bis zu diesem Tag hatte ich kaum mehr an diesen Moment gedacht. Die Schrecken der folgenden Ereignisse und mein grenzenloser Kummer hatten ihn verdrängt. Doch im Laufe des Tages war jener Augenblick mir zweimal durch den Kopf gegangen und plötzlich brachte ich Shigerus Worte und die der Prophetin zum ersten Mal miteinander in Verbindung. »Alles ist eins«, hatte sie gesagt. Shigeru musste dasselbe geglaubt haben. Ihr erstauntes Lachen klang mir wieder im Ohr und ich sah Shigeru vor mir, der mich anlächelte. Ich spürte, dass mir unversehens etwas Grundlegendes klar geworden war, ohne dass ich es je in Worte würde fassen können. Mein Herz schien kurz auszusetzen vor Überraschung. Verschiedenste Bilder bestürmten gleichzeitig mein lang verschüttetes Gedächtnis: Shigerus Gefasstheit im Moment des Todes, das Mitgefühl der Prophetin, mein eigenes Staunen und meine Erwartung an meinem ersten Tag in Terayama, die Feder des houou mit ihren roten Spitzen in meiner Hand. Ich sah die Wahrheit hinter diesen Lehren und dem Glauben, sah, wie menschliches Streben die Klarheit des Lebens trübte, erkannte voller Bedauern, dass der Mensch seinen Begierden und dem Tod unterworfen ist, Krieger ebenso wie Ausgestoßene, Priester, Bauern, selbst der Kaiser. Wie sollte ich diese Klarheit benennen? Himmel? Gott? Schicksal? Oder mit Myriaden von Namen wie die der unzähligen alten Geister, die dem Volksglauben nach dieses Land bevölkerten? Sie alle waren gesichtslose Gesichter, Beschreibungen unbeschreibbarer Dinge, Teile einer Wahrheit, aber nie die ganze.
    »Und Lady Maruyama?«, fragte Kaede, erstaunt über mein langes Schweigen.
    »Ich denke, dass sie einen starken Glauben hatte, aber ich habe nie mit ihr darüber gesprochen. Bei unserer ersten Begegnung schrieb sie mir das Zeichen der Verborgenen in meine Hand.«
    »Zeig es mir«, flüsterte Kaede, und ich ergriff ihre Hand und zeichnete es auf der Innenfläche nach.
    »Sind die Verborgenen gefährlich? Warum werden sie von jedermann gehasst?«
    »Sie sind nicht gefährlich. Es ist ihnen verboten, Leben zu nehmen, deswegen verteidigen sie sich nicht. Sie glauben daran, dass vor dem Auge ihres Gottes alle gleich sind und dass er nach dem Tod über jeden richten wird. Mächtige Herrscher wie Iida hassen diese Lehre. Die meisten Angehörigen der Kriegerklasse tun dies. Wenn alle gleich sind und Gott auf allem sein Auge hat, muss es doch falsch sein, die Menschen derartig schlecht zu behandeln. Unsere Welt würde von Grund auf umgewälzt, wenn jedermann so dächte wie die Verborgenen.«
    »Und glaubst du daran?«
    »Ich glaube nicht, dass ein solcher Gott existiert, aber dass alle so behandelt werden sollten, als ob sie gleich wären. Ausgestoßene, Bauern, die Verborgenen, alle müssten vor der Grausamkeit und Gier der Kriegerklasse beschützt werden. Und ich möchte jeden einsetzen, der mir seine Hilfe anbietet. Ganz gleichgültig, ob es Bauern
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