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Der Glanz des Mondes

Der Glanz des Mondes

Titel: Der Glanz des Mondes
Autoren: Lian Hearn
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KAPITEL 1

    Die Feder ruhte in meiner Hand. Ich hielt sie vorsichtig, mir ihres Alters und ihrer Zerbrechlichkeit bewusst. Sie war immer noch von zart durchscheinendem Weiß, mit leuchtend roten Spitzen.
    »Sie stammt von einem heiligen Vogel, dem houou«, erklärte mir Matsuda Shingen, der Abt des Tempels von Terayama. »Dieser Vogel erschien Ihrem Adoptivvater Shigeru, als er gerade erst fünfzehn war, jünger, als Sie heute sind. Hat er Ihnen je davon erzählt, Takeo?«
    Ich schüttelte den Kopf. Matsuda und ich standen in seinem Zimmer am einen Ende des Ganges, der den Haupthof des Tempels umschloss. Von draußen drangen die Geräusche geschäftiger Vorbereitungen, das Kommen und Gehen vieler Menschen zu uns herein und übertönten die gewohnten Klänge der Tempelanlage, die Gesänge und das Läuten der Glocken. Ich konnte Kaede hören, meine Frau, die jenseits des Tores mit Amano Tenzo über die Schwierigkeiten sprach, unsere Armee auf dem Feldzug ausreichend mit Proviant zu versorgen. Wir machten uns für die Abreise nach Maruyama bereit - jene große Domäne im Westen, deren rechtmäßige Erbin Kaede war -, um in ihrem Namen Anspruch darauf zu erheben, wenn nötig, würden wir dafür kämpfen. Seit dem Ende des Winters waren immer mehr Krieger nach Terayama gekommen, um sich mir anzuschließen, und inzwischen hatte ich an die tausend Mann, die im Tempel und in den umliegenden Dörfern untergebracht waren. Hinzu kamen die Bauern aus der Umgebung, die meine Mission ebenfalls tatkräftig unterstützten.
    Amano stammte aus Shirakawa, dem alten Familiensitz meiner Frau, und war der vertrauenswürdigste ihrer Gefolgsleute, ein hervorragender Reiter, der sehr gut mit Tieren umzugehen wusste. In den Tagen nach unserer Hochzeit hatten Kaede und Manami, ihre Dienerin, großes Geschick im Beschaffen und Verteilen von Ausrüstung und Verpflegung bewiesen. Sie besprachen alles mit Amano und ließen ihn ihre Entscheidungen an die Männer weitergeben. An diesem Morgen zählte er ihnen gerade die Ochsenkarren und Packpferde auf, die wir zur Verfügung hatten. Ich versuchte nicht mehr hinzuhören und mich darauf zu konzentrieren, was Matsuda mir erklärte, doch die Unruhe hatte mich gepackt, ich sehnte mich danach, endlich aufzubrechen.
    »Üben Sie sich in Geduld«, sagte Matsuda mit sanfter Stimme. »Dies hier wird nicht lange dauern. Was wissen Sie über den houou?«
    Widerstrebend richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Feder in meiner Hand und versuchte mich daran zu erinnern, was mich mein früherer Lehrer, Ichiro, in Lord Shigerus Haus in Hagi gelehrt hatte. »Er ist ein heiliger Vogel von mythologischer Bedeutung, der in Zeiten von Frieden und Gerechtigkeit erscheint. Und man benutzt für ihn dasselbe Schriftzeichen wie für den Namen meines Clans, Otori.«
    »Das ist richtig.« Matsuda lächelte. »In diesen Zeiten, in denen Frieden und Gerechtigkeit so rar gesät sind, erscheint er nicht gerade oft. Aber Shigeru hat ihn gesehen und ich glaube, dass jene Erscheinung ihn darin bestärkte, diesen Idealen zu folgen. Damals sagte ich ihm, die Federn seien in Blut getaucht, und tatsächlich treibt Sie und mich sein Blut, sein Tod bis heute an.«
    Ich betrachtete die Feder genauer. Sie lag quer über der Narbe auf meiner rechten Handfläche, wo ich mich vor langer Zeit, in meiner Geburtsstadt Mino, verbrannt hatte. An jenem Tag hatte Shigeru mir das Leben gerettet. Meine Hand war auch durch die gerade Linie der Kikuta gezeichnet, der Stammesfamilie, der ich angehörte und vor der ich im vergangenen Winter geflüchtet war. Mein Erbe, meine Vergangenheit und meine Zukunft, all das schien in dieser Hand zu liegen.
    »Weshalb zeigen Sie sie mir gerade jetzt?«
    »Sie werden bald von hier fortgehen. Den ganzen Winter über sind Sie bei uns gewesen, um zu lernen, zu trainieren und sich darauf vorzubereiten, Shigerus letzten Willen zu erfüllen. Ich möchte, dass Sie seine Vision teilen und nicht vergessen, dass sein Ziel Gerechtigkeit war. Es muss auch das Ihre sein.«
    »Ich werde immer daran denken«, versprach ich und verbeugte mich ehrfürchtig über der Feder in meinen ausgestreckten Händen, dann reichte ich sie dem Abt zurück. Er nahm sie an sich, verbeugte sich ebenfalls und legte sie wieder in den kleinen lackierten Kasten, dem er sie entnommen hatte. Ich schwieg und musste an die vielen Dinge denken, die Shigeru für mich getan hatte, und an all das, was ich für ihn noch zu erreichen hatte.
    »Ichiro
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