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Der Glanz des Mondes

Der Glanz des Mondes

Titel: Der Glanz des Mondes
Autoren: Lian Hearn
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der trostlosen Landschaft. Doch als wir an den Wiesen vorbeiritten, rief Hiroshi mir zu: »Lord Otori! Sehen Sie nur!«
    Zwei braune Stuten trotteten uns entgegen und wieherten unseren Pferden zu. Beide hatten Fohlen bei sich, drei Monate alt, schätzte ich, ihr braunes Jungtierfell begann gerade einer grauen Färbung zu weichen. Ihre Mähnen und Schweife waren schwarz wie Lack.
    »Das sind Rakus Fohlen!«, sagte Hiroshi. »Amano erzählte mir, dass die Stuten in Shirakawa von ihm trächtig waren.«
    Ich konnte meinen Blick nicht von ihnen lösen. Sie erschienen mir wie ein unbeschreiblich kostbares Geschenk des Himmels, des Lebens selbst, ein Versprechen von Erneuerung und Wiedergeburt.
    »Eines davon wird dir gehören«, sagte ich zu Hiroshi. »Du verdienst es für deine Treue zu mir.«
    »Kann Taku nicht das andere kriegen?«
    »Natürlich.«
    Die Jungen brüllten vor Begeisterung. Ich wies die Stallburschen an, die Stuten mitzunehmen, und die Fohlen hüpften mit ausgelassenen Bocksprüngen hinter ihnen her und erheiterten mich enorm, während wir uns von Hiroshi, dem Lauf des Shirakawa folgend, zu den Heiligen Höhlen führen ließen.
    Ich war noch nie zuvor dort gewesen und hatte nicht mit der Größe der Höhle gerechnet, aus der der Fluss entsprang. Der Berg ragte auf, bereits mit schneebedecktem Gipfel, und spiegelte sich im stillen schwarzen Wasser des winterlichen Flusses. Wenn überhaupt irgendwo, dann konnte ich hier, an diesem von der Hand der Natur gezeichneten Ort, die Wahrheit erkennen, dass alles eins war. Erde, Wasser und Himmel lagen in ungebrochener Harmonie beieinander. Es war wie jener Moment in Terayama, als mir ein kurzer Blick ins Herz der Wahrheit gewährt worden war; nun offenbarte mir die Erde das Wesen des Himmels.
    Kurz vor dem Tor zum Schrein stand am Flussufer eine kleine Hütte. Ein alter Mann kam heraus, als er die Pferde hörte; Makoto und Hiroshi wiedererkennend, lächelte er und verneigte sich.
    »Willkommen, setzt euch doch, ich bereite euch ein wenig Tee. Dann rufe ich meine Frau.«
    »Lord Otori ist gekommen, um die Kisten abzuholen, die wir hier ließen«, sagte Hiroshi gewichtig und grinste dabei Makoto an.
    »Ja, ja. Ich werde Bescheid sagen. Kein Mann darf hinein, aber die Frauen werden zu uns herauskommen.«
    Während er uns Tee einschenkte, trat ein zweiter Mann aus der Hütte ins Freie und begrüßte uns. Er war mittleren Alters, freundlich und wirkte intelligent. Ich hatte keine Ahnung, wer er war, aber er schien mich zu kennen. Er stellte sich uns als Ishida vor und ich erfuhr, dass er Arzt war. Während er uns etwas über die Geschichte der Höhlen und die heilenden Kräfte des Wassers erzählte, lief der Alte, leichtfüßig von Fels zu Fels springend, auf den Höhleneingang zu. Unweit davon hing an einem hölzernen Pfosten eine Bronzeglocke. Er schlug mit dem Klöppel dagegen und ihr hohler Ton dröhnte über das Wasser und hallte im Inneren des Berges wider.
    Ich beobachtete den Alten und trank den dampfenden Tee. Er schien hineinzuspähen und zu lauschen. Nach einer Weile drehte er sich um und rief: »Nur Lord Otori darf bis hierher kommen!«
    Ich stellte meine Teeschale ab und erhob mich. Hinter dem Hang im Westen ging gerade die Sonne unter und der Berg überschattete das Wasser. Als ich den Schritten des Alten folgte, von Felsen zu Felsen springend, vermeinte ich zu spüren, wie etwas - oder jemand - sich mir näherte.
    Ich stand neben dem Alten, neben der Glocke. Er blickte auf und grinste, ein so offenes und warmes Lächeln, dass mir fast Tränen in die Augen traten.
    »Da kommt meine Frau«, sagte er. »Sie bringt die Kisten.« Er kicherte und fügte hinzu: »Sie haben schon auf Sie gewartet.«
    Inzwischen hatten sich meine Augen an die Dunkelheit in der Höhle gewöhnt und ich konnte hineinsehen. Ich sah die alte Hüterin des Schreins in ihrem weißen Gewand. Ich hörte ihre Schritte auf dem nassen Felsboden und die der Frauen hinter ihr. Das Blut pochte mir in den Ohren.
    Als sie ins Licht hinaustraten, verneigte sich die Alte bis zum Boden und stellte die eine Kiste vor mir ab. Shizuka stand direkt hinter ihr und trug die andere.
    »Lord Otori«, murmelte sie.
    Ich hörte es kaum. Ich sah keine der beiden an. Ich starrte an ihnen vorbei zu Kaede hinüber.
    Ich nahm die Form ihrer Silhouette wahr, aber irgendetwas an ihr hatte sich verändert. Sie war nicht wiederzuerkennen. Über dem Kopf trug sie ein Tuch, und als sie auf mich zukam, ließ sie es auf ihre
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