Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der gläserne Wald

Der gläserne Wald

Titel: Der gläserne Wald
Autoren: Reinald Koch
Vom Netzwerk:
aufplatzen. Sein Unterkiefer hängt willenlos herab, dabei dringt aus der Kehle ein fürchterlicher schriller Schrei, der nicht enden will.
    Mit quälender Langsamkeit wächst der Griffel der Beere durch die Haut in Elkos Oberarm. Der Arm schwillt stärker an. Vor meinen Augen bewegen sich rote Beeren, tanzen einen hüpfenden Reigen im grün-silbernen Waldlicht. Die blauen Stämme ragen höher als die Türme von Zaina und ich liege am Boden – vor mir die Beere, rot – und der stachelbewehrte Peitschenhieb meines Vaters zerreißt mir die Wade.
     
    Mit einem Ruck wendete sich der Offizier um und marschierte zur Tür. Seine mit silbernen Stollen beschlagenen Sandalen klirrten auf den Steinfliesen wie aufeinander schlagende Waffen.
    Vor dem mächtigen, aus Gold geschmiedeten Tor des Heiligtums blieb er abrupt stehen, obgleich es bis zum letzten Augenblick so ausgesehen hatte, als wollte er es einrennen. Mit der rechten Hand nahm er aus einer beckenähnlichen Vertiefung des Tores eine schimmernde Kugel, die offensichtlich ein beträchtliches Gewicht hatte, hob sie zu einem darüber liegenden kreisrunden Loch und schob sie hinein.
    Einen Augenblick hörte man die Kugel eine schiefe Ebene hinabrollen, dann herrschte wieder Stille. Alle Gespräche im Heiligtum verstummten, denn die Anwesenden, die hohen Priester und der Fürst, schauten auf das Tor, um das immer wieder beeindruckende öffnen der Tür mitzuerleben.
    Geräuschlos wie ein leichter Vorhang aus Sommerfäden hoben und teilten sich die massiv goldenen Torflügel, die so schwer waren, dass Menschenkraft sie nicht um Haaresbreite hätte bewegen können.
    Dann war das Tor geöffnet, und man konnte hinaussehen auf den inneren Tempelhof, der gedrängt voller Menschen stand, die jetzt nur noch von den Tempelwachen und den Soldaten der fürstlichen Garde am Betreten des Heiligtums gehindert wurden.
    Einige Zeit wogte das Gedränge und der Lärm im Hof hin und her. Staub lag über denen, die draußen in der Sonnenglut gewartet hatten, und einen Moment schien es, als seien sie ungeduldig genug, die Kette der Soldaten zu durchbrechen, um ins Heiligtum einzudringen zu den Erhabenen, die da in der Kühle saßen und unbewegten Gesichts auf ihr Volk hinausschauten; aber sie waren keine Aufrührer, sondern Kaufherren, selbst wichtige Männer mit Befehlsgewalt und großem Einfluss. Außerdem waren die meisten von ihnen zu dick und verschwitzt. Sie waren empört, dass man sie nicht um ihre Meinung fragte, und sie hätten sich auch gern hingesetzt. Mancher mochte sich der kühlen Halle erinnern, in der seine Schreiber saßen, oder an seine Sklavinnen in den Badegemächern zu Hause. Die Wachen drängten sie zurück. Der Kaptin der Leibwache hatte sich mit gespreizten Beinen mitten ins offene Tor gestellt und hob beide Hände, um die Aufmerksamkeit des Volkes auf sich zu lenken. Mit lauter, befehlsgewohnter Stimme sagte er: »Unser wohlgeborener Fürst, der erhabene Vater der Stadt, Ämar von Zaina, befiehlt die Sprecher der Kaufherren zu sich! Habt ihr gehört: Die Sprecher der Kaufherren sind zum Fürsten befohlen!«
    Eine neue Bewegung entstand in der Menge der Wartenden. Mehrere besonders bunt gekleidete Männer drängten sich nach vorn.
    Mit klappernden Sandalen schritt der Kaptin bis zur letzten Stufe hinab, blieb dort stehen und hütete sich, in den staubigen Sand des Hofes zu treten. Mit einer knappen Geste winkte er einen Tempelwächter herbei.
    »Komm her, Soldat!«
    Vor dem Kaptin schlug der Wächter den Speer gegen den Schild und stand stramm.
    »Sag deinem Kommandeur, er soll die Sprecher der Kaufherren passieren lassen! – Befehl des Fürsten! – Sag ihm, er soll die Sprecher selbst überprüfen, er kennt sie! Abtreten!«
    Bevor der Kaptin jedoch wieder zum Tor des Heiligtums hinaufsteigen konnte, bahnte sich ein schwerbewaffneter Zenturio mit rücksichtslosen Stößen seines Schildes einen Weg durch die unruhige Menge. – Die Tempelwächter und fürstlichen Soldaten ließen ihn anstandslos passieren, weil er den blau und gelb gestreiften Wimpel der wichtigen Botschaft an seinem Speer trug.
    Er war ein großgewachsener Mann, der den Kaptin der Leibwache mindestens um Haupteslänge überragte. Mit seinem schweren Zweihänder, der ihm über den Rücken hing, sah er wie ein Scharfrichter aus.
    Der Zenturio schlug dröhnend den Speer gegen den Schild, während der Kaptin leicht mit dem Kopf nickte.
    Nach dem Salut trat der Zenturio eine Stufe zurück, so dass der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher