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Der gläserne Wald

Der gläserne Wald

Titel: Der gläserne Wald
Autoren: Reinald Koch
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Ring um die Wade und war breit gezackt von den in die Peitschenschnur eingeflochtenen Dornen. Blut quoll aus der Wunde, und es war rot wie die Beeren.
    Ich habe noch lange geglaubt, dass mein Vater mich ungerechtfertigt heftig vor der Berührung der Beere bewahrt habe, denn er ist sonst kein besonders religiöser Mann, ebenso wenig wie ich selbst. Wir sind zwar beide geweihte Priester, er hat mich aber immer dazu angehalten, religiöse Vorschriften auf ihren Sinn zu prüfen. So verzichten wir beide auf die regelmäßigen Waschungen nach dem Reinlichkeitskodex, weil es ja auf der Hand liegt, dass der Grundgedanke des Kodex Aberglaube ist: Wie sollte es möglich sein, dass Krankheiten von winzigen Tierchen hervorgerufen werden! Ich schließe mich da ganz der Theorie meines verehrten Lehrers im Seminar an, der mit Recht darauf hinweist, dass es im ältesten überlieferten Text heißt: »Sie sind so klein, dass das unbewaffnete Auge sie nicht mehr sehen kann.« – Diese etwas verschlüsselte Wendung lässt mit Sicherheit nur die eine Deutung zu, dass unsichtbare böse Geister die Krankheiten erzeugen. Geister kann man natürlich nicht mit Wasser abwaschen, deshalb sind auch die Waschungen nur eine Sache für abergläubige Toren.
    Nun, seit einiger Zeit weiß ich, dass mein Vater Recht hatte, als er mich mit der Peitsche von der Beere fernhielt. Das Beerentabu hat wirklich seinen Sinn.
    Im Grunde war es die gleiche Situation wie damals, nur war nicht ich der kleine Junge, sondern Elko. Elko ist vier Jahre jünger als ich und der Sohn eines Nachbarn. Früher habe ich manchmal mit ihm gespielt, denn in meinem Alter gibt es in unserer Gegend keine Söhne von Aufsehern, und ich konnte ja nicht mit den Sammlerkindern spielen.
    Weil er eben jünger ist, durfte er erst vier Jahre später seinen Vater zur Beerenernte begleiten. Ich war inzwischen schon fast ein richtiger Aufseher geworden und ließ mich von den Leuten Tolt, der Nägar, nennen, wie sie meinen Vater Iro, der Nägar, nennen mussten. – Vater hatte mir zur Einsegnung eine leichte Peitsche mit versilbertem Griff geschenkt; leider waren noch keine Stacheln eingeflochten, weil er fürchtete, ich könnte mich damit selbst verletzen. Was für ein unsinniger Gedanke! Ich hatte längst mit einer selbstgemachten Peitsche geübt und in die Schnur kleine Nüsse und Dornen geflochten.
    Obwohl meine Peitsche nicht viel mehr als ein Spielzeug war, imponierte sie dem kleinen Elko mit ihrem silbernen Griff. – Ach, hätte ich sie nur nie aus der Hand gegeben!
    Elko hätte natürlich bei seinem Vater bleiben müssen, und der alte Aleb, sein Vater, hätte besser auf Elko achten sollen, aber Elko bewunderte mich zu sehr und bettelte unentwegt, ich möge ihn bei mir behalten. Und als ich dann bei Aleb ein gutes Wort für ihn einlegte, erlaubte er seinem Sohn, mit mir zu gehen. Ich muss ihm vertrauenswürdig genug erschienen sein als Nägar-Priester und Aufseher.
    Es hieß sogar, dass ich gegen allen Brauch in absehbarer Zeit einen eigenen Sammlertrupp bekommen würde. Bei der Besichtigung im Jahr zuvor hatte mir Ämar, der wohlgeborene Fürst von Zaina, eine jener Ruckanüsse zugeworfen, die als Glücksbringer und gute Zeichen gelten, und sie sind es wirklich, wenn sie aus der Hand des höchsten Fürsten kommen.
    Da wir nun drei Aufseher waren, beschlossen wir, die beiden Sammlertrupps in einer langen Reihe vor uns herzutreiben und nicht wie sonst jeden Trupp in einem Halbkreis aufzustellen. Aleb wollte den linken Flügel übernehmen, mein Vater den rechten, und ich sollte mit Elko das Mittelfeld überwachen.
    Manche glauben, dass das Amt eines Aufsehers sehr bequem sei, allerdings nur, solange sie noch nichts mit Sammlern zu tun gehabt haben. Wer je diese kaum mehr menschenähnlichen Wesen vor der Ernte gesehen hat, wird verwundert feststellen, dass sie sich bis zum Äußersten sträuben, das einzige Privileg auszunutzen, das sie überhaupt haben: zu ihrem Heil die Menge der Schmerzen zu vergrößern. Schon an diesem kleinen Beispiel kann man die Weisheit unserer Verfassung erkennen, die den Sammlern nur ein Privileg gewährt. Wie viel Aufseher wären nötig, wenn man sie noch zum Gebrauch anderer Privilegien peitschen müsste!
    Kaum hatten die Sammler bemerkt, dass mein Vater, Elko und ich ihr Lager betreten hatten, ließen sie in Scharen ihre plumpen Leiber zu Boden sinken. Einige wimmerten und sabberten vor sich hin, andere erbrachen Schleim und entleerten sich, bis der Platz
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