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Der gläserne Wald

Der gläserne Wald

Titel: Der gläserne Wald
Autoren: Reinald Koch
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mochte, sie würden nicht mehr auf seine Befehle reagieren.
    Vorläufig hatte ich nichts weiter zu tun, als die Sammler in Bewegung zu halten und sie langsam waldaufwärts zu treiben – immer in der Hoffnung, dass Aleb uns bald einholen würde – denn Beeren gab es hier unten noch keine.
    Gegen Mittag erreichten wir die Beerengrenze. Die ersten Beeren wachsen etwa fünfhundert Meter über dem Boden. – Obwohl ich meine Sammler so langsam wie möglich getrieben hatte, war von Alebs Sammlertrupp noch immer nichts zu sehen. Wenn ich stehen blieb, konnte ich in der Ferne die Stimme und die Peitsche meines Vaters hören. – Was blieb mir übrig als weiter zu treiben? Allerdings war nach meiner bisherigen Erfahrung der Abstand zwischen den einzelnen Sammlern zu groß, und wir würden viele Beeren verlieren, denn es war auch unwahrscheinlich, dass Aleb mit seinem Trupp alle Beeren finden würde, die unsere Sammler übersehen hatten. – Da begriff ich, warum es nicht gut ist, von althergebrachten Gewohnheiten abzuweichen.
    »Lass mich auch mal treiben!« unterbrach Elko plötzlich meine Gedanken, und seine Stimme klang so enttäuscht und traurig, als sei er meiner abschlägigen Antwort schon sicher.
    »Was tust du denn sonst?« fragte ich zurück, als hätte ich den Sinn seiner Bitte nicht verstanden, denn es fiel mir schwer, diesem Jungen einen Herzenswunsch verweigern zu müssen. Ich verstand ihn gut, weil ich selbst noch so jung war, weil ich mich noch der spöttischen Antworten erinnerte, die mir mein Vater in ähnlichen Situationen gegeben hatte.
    »Gib mir deine Peitsche«, bettelte Elko.
    »Und du weißt, dass es verboten ist!« erwiderte ich. »Die Peitsche ist ein Kultgegenstand, der Oberste hat sie berührt, und nur ein Priester darf mit ihr schlagen. Und du bist kein Priester.«
    »Jetzt tu nicht so, Tolt, als würdest du an alle Wissenschaften glauben! – Du bist doch sonst nicht so – Tolt! Bitte!« – Ich glaubte, alle inbrünstige Bewunderung, die er für mich empfand, aus dieser Bitte herauszuhören, und es gelang ihm wirklich, mich zu rühren.
    Ich reichte ihm die Peitsche. »Da, nimm sie! Aber nur für einen Augenblick!« – Ich war sehr ärgerlich, dass ich mich hatte beschwatzen lassen, meine Peitsche aus der Hand zu geben. Wenn Vater das gesehen hätte, würde er sie wahrscheinlich vor meinen Augen zerbrechen. Und zu Recht würde er das tun. Ich hatte plötzlich ein ungutes Gefühl. Ich kam mir ohne Peitsche wie nackt vor.
    Kaum hatte sie Elko in der Hand, rannte er nach vorn auf den nächsten Sammler zu. Laut schreiend wollte er ihn schlagen, doch die Peitschenschnur klatschte harmlos gegen den nächsten Stamm. Elko schaute so verblüfft, dass ich laut lachen musste. – Zwischen den mächtigen engstehenden Stämmen eine Peitsche richtig zu handhaben, ist eine Kunst, die man mühsam erlernen muss. Andererseits ist eine Peitsche im Beerenwald die einzige überhaupt brauchbare Waffe, die über mehr als Armeslänge hinausreicht.
    Aufgebracht über seinen Misserfolg und mein Lachen stürmte Elko auf den unglücklichen Sammler zu, als wollte er ihn mit den Händen schlagen, doch es ist verboten, einen Sammler mit der Hand zu strafen. – Zum zweiten Mal holte er mit der Peitsche aus, und wieder blieb die Schnur an einem Stamm hängen. Plötzlich blieb er wie gebannt stehen und starrte etwas an, das ich nicht sehen konnte.
    Instinktiv wusste ich, dass er eben zum ersten Mal in seinem Leben eine Beere erblickte. Mein Arm machte eine Bewegung, als hätte ich die Peitsche in der Hand und könnte ihn damit zurückreißen, doch es war zu spät. Mit einem Aufschrei verschwand Elko hinter dem blauen, glatten Stamm eines Baumes.
    Ich glaube, auch ich habe in diesem Augenblick geschrien; aber ich weiß es nicht mehr genau. Ich sehe jedenfalls noch genau den Sammler vor mir, um den sich Elko hatte kümmern wollen, er starrt mit stumpfem Blick in die Richtung, in der Elko verschwunden ist. Ich erinnere mich, dass ich gestolpert und fast gefallen bin, dann stehe ich vor Elko. Der Kampf ist noch nicht zu Ende, aber es gibt keine Rettung mehr für ihn. – Welch ein entsetzlicher Anblick! Und ich kann nichts, nichts für ihn tun.
    Elko kniet am Boden und beide Hände umfassen den blutig roten Leib der Beere. Hunderte haarfeiner Wimpern neigen sich rings zu seinen Händen, haben die Haut durchbohrt, und schon ist der Körper des ehemals schlanken Jungen so unförmig angeschwollen, dass die Nähte seiner Kleidung
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