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Der gläserne Wald

Der gläserne Wald

Titel: Der gläserne Wald
Autoren: Reinald Koch
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er in das fassungslose Schweigen hinein fragte:
    »Welche Maßnahmen sollen also die Behörden der Stadt ergreifen – nach Meinung der Priesterschaft?«
    Wieder war es Artom, der antwortete:
    »Du, Ämar, solltest uns Diener der drei großen Religionen nicht in die Enge treiben. Was hast du von dem, was wir planten, erreicht? Wo ist der große Bund der Städte, wo sind die Verträge mit den wandernden Stämmen? – Wenn es dir gelungen wäre, die Einheit auf Ne Par herzustellen, müsstest du nicht uns nach Maßnahmen fragen! Stattdessen hast du deine Armee verstärkt und Fragons gezüchtet, bis dir keiner deiner Nachbarn mehr traute. Nun bist du freilich so weit, dass nur noch die Religionen dir helfen können.
    Aber ich will dir sagen, was du tun kannst, nachdem jetzt drei Große Wagen am Strand stehen, und das zwei Wochen vor ihrer Zeit: Rette dein Volk! Übergib den Adaporianern die Stadt und Beerenessenz, soviel du findest!«
    Der Fürst hatte bisher mit unbewegtem Gesicht zugehört. Nun begann er zu lächeln, und die Schärfe seiner Worte stand in eigenartigem Gegensatz zu dem freundlichen Gesichtsausdruck.
    »So ähnlich! – So, ihr hohen Priester, hatte ich mir das vorgestellt!« – Er beugte sich vor und lachte ihnen ins Gesicht, und jetzt, da er nicht sprach, wirkte sein Lachen in keiner Weise maskenhaft. Schließlich fiel sein Blick auf den Offizier der Leibwache, der neben ihm stand.
    »Kaptin, lass die Sprecher der Kaufherren holen! Sie mögen an der Beratung teilnehmen.«
     
    Ich bin Tolt, der Sohn des Aufsehers bei der Beerenernte. Mein Vater heißt Iro, der Nägar. Es ist die Pflicht eines Aufsehers, bei der Ernte hinter den Sammlern einherzugehen und sie gelegentlich mit der Peitsche zu ermuntern, denn die Sammler neigen zu Nachlässigkeiten.
    Diese Sammler sind in der Regel sehr einfältige Menschen, die nur wenig von den großen Grundgedanken unserer erhabenen Religion verstehen. – Nicht, dass ich ihnen einen Vorwurf machen wollte! Sie haben ja aufgrund ihres Standes nicht das Privileg – das ich etwa habe, an religiösen Seminaren teilnehmen zu dürfen.
    So muss ihnen leider mein Vater vor jeder Ernte aufs Neue erklären, dass die Ansammlung körperlicher Schmerzen eine große Bereicherung für das Leben in der dreieinigen Dimension des zeitlosen Raums darstellt.
    In den letzten Jahren durfte ich bei solchen Gelegenheiten neben meinem Vater stehen, denn er wünscht, dass ich allmählich in die Würde eines Aufsehers hineinwachse. – Seitdem bezweifle ich, dass seine Worte auf fruchtbaren Boden fallen. Die Augen der Sammler sind zwar auf meinen Vater gerichtet, doch sie scheinen durch ihn hindurch in die Ferne zu sehen und wirken völlig verständnislos.
    Jedermann weiß, dass sich kein anderer Mensch – er sei denn ein Heiliger – ein so großes Anrecht auf das zeitlose Reich erwerben kann wie ein Sammler; dennoch wirken sie auf mich manchmal kaum noch wie Menschen.
    Bis auf die Jüngsten unter ihnen, die noch keine Ernte mitgemacht haben, sind ihre Körper aufgedunsen, und sie haben eine ungesunde und blasse Hautfarbe, wie man sie sonst nur bei Kranken findet. Ihre Unterkiefer lassen sie schlaff herabhängen, und aus ihren halb geöffneten Mündern rinnen Speichelfäden, was ihnen einen blöden Ausdruck verleiht.
    Auch ihre zahllosen Narben, die ja sichtbare Orden erlittenen Schmerzes sind, machen sie nur ekelhafter, aber nicht würdiger.
    Als ich, noch ein Junge, zum erstenmal eine Beere sah, überwältigte mich ihr Anblick. Eine Beere ist strahlend rot! Ich kannte diese Farbe bisher nur als die des Blutes und der Rubinfäden, die in das Ornat der hohen Priester gewebt sind, aber ich hatte noch nie ein solches Rot gesehen. Dieses überwältigende Rot!
    Ich riss mich von der Hand meines Vaters los, um mich auf die Beere zu stürzen, doch er ist ein geübter Mann: Ehe ich drei Schritt gelaufen war, wurden mir die Beine unter dem Körper fortgerissen.
    Als er mich dann von der Peitschenschnur befreite, belehrte er mich, dass die Berührung der Beere ungemein schmerzhaft sei, dass dieser Schmerz aber das einzige und darum unantastbare Privileg der Sammlerkaste darstelle.
    Natürlich wollte ich nicht in die Kaste der Sammler eingestuft werden, so ehrenvoll in religiösem Sinn deren Tätigkeit auch sein mochte.
    Zunächst allerdings war mein Interesse an der Beere in den Hintergrund gedrängt durch die Wunde, die Vaters Peitsche an meinem rechten Bein geschlagen hatte. Sie zog sich wie ein
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