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Fächertraum

Fächertraum

Titel: Fächertraum
Autoren: B Leix
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1
    »Wieso immer im Herbst?« Oskar Lindt hielt seinem Kollegen die Tageszeitung hin: »Heute schon wieder zwei Seiten.«
    »Brauchst doch nur rauszuschauen«, antwortete Paul Wellmann. »Vielleicht stirbt es sich bei diesem trüben Nebelwetter einfach leichter.«
    »Oder besser?«
    »Oder schneller oder lieber, was weiß ich, Oskar.«
    Ein intensiver Blick auf die Anzeigen mit dem schwarzen Rand gehörte neben der ersten Pfeife und dem ersten großen Milchkaffee des Tages zum festen Ritual des Leiters der Karlsruher Mordkommission.
    »Hier, einer unserer Kunden. ›Plötzlich und unerwartet‹ … Ein Glück, dass ihn die Sanitäter schon abgeschnitten hatten. Je älter ich werde, umso schwerer fällt mir der Anblick.«
    Auch Paul Wellmann wurde nachdenklich: »Noch vor zehn Jahren hat es mir nicht viel ausgemacht. Ein Routinefall halt. Suizid, was solls. Keine Fremdeinwirkung festzustellen, also Aktendeckel zu, Leiche freigegeben, erledigt.«
    »Und heute?«, fragte Jan Sternberg, der Jüngste im Kommissariat, und angelte sich den Sportteil der Zeitung.
    »Hmm«, Wellmann schwieg und schaute zu Lindt.
    Der verschränkte die Arme, lehnte sich zurück und blies eine mächtige Rauchwolke aus dem Mundwinkel. »Also, wenn ich ehrlich sein soll …«
    Die Augen seiner Kollegen richteten sich auf den Chefermittler.
    »… vor vier Wochen ungefähr, ja, in der Nacht, als die Uhr wieder auf Winterzeit gestellt wurde …«
»Hast du davon geträumt?«
    Lindt nickte und bekam einen merkwürdig glasigen Blick. »Erinnerst du dich, Paul? Ziemlich lang schon her. Ein eiskalter Wintertag. Der alte Kopp war hier noch der Chef, da hat er uns beide an die Alb geschickt, dort, wo sie durch den Rüppurrer Friedhof fließt.«
    Paul zuckte zusammen: »Die Ertrunkene im Pelz?«
    »Siehst du sie vor dir? Wie sie im Wasser trieb?«
    Wellmann rieb sich die Augen: »Auf dem Rücken, ein Arm in einer Wurzel verfangen. Vornehmes schwarzes Kleid, die Schuhe schon vom Wasser mitgenommen.«
    »Und der Mantel? Weißt du noch?«
    »Persianer, ja, natürlich genauso schwarz, offen, ausgebreitet.«
    »Und die Strömung bewegte ihn hin und her.«
    Wellmann schluckte. »Davon hast du geträumt?«
    Lindt schüttelte den Kopf. »Nicht, wie sie im Wasser lag, sondern wie sie über den Friedhof ging. Nein, sie schwebte eher. Ihr schwerer Pelz flatterte weit offen im Wind. So leicht, als wäre er ein dünner Sommermantel.«
    »Die Frau war schon ziemlich alt. Einer unserer Kollegen von der Streife hat sie doch gekannt und nur gemeint: ›Mit 85 geht man nicht mehr ins Wasser! Die hätt auch vollends warten können.‹«
    Jan Sternberg begann zu grinsen, doch Wellmanns Gesichtsausdruck war erstarrt.
»Damals haben wir über diesen blöden Spruch auch gelacht.«
    »Das lange weiße Haar hatte sie gelöst. Könnt ihr euch das Bild vorstellen?«
    Keiner sagte etwas.
    »Sogar Carla ist aufgewacht, so abrupt bin ich hochgeschreckt. Eigentlich wollte ich es niemandem erzählen …«
     
    Das dünne Schulheft, das seither auf seinem Nachttisch lag, erwähnte Oskar Lindt nicht. Dass er schon siebenmal hineingeschrieben hatte, behielt er ebenfalls für sich. Morgens packte er es weg. Manches erzählte er Carla, aber sie sollte es nicht lesen.
    »Was sagt denn die Statistik?«, unterbrach Jan die Stille. »Sterben im Herbst wirklich mehr Leute? Ich könnt ja mal bei der Zeitung anrufen, ob sie im Mai auch täglich zwei Seiten mit den schwarzen Anzeigen füllen.«
    Lindt seufzte. »Vielleicht bilde ich mir das ja nur ein, aber unser Jahrgang, Paul, wird jetzt immer häufiger aufgerufen.«
»Du meinst, die Einschläge kommen näher?«
    »Wie hoch war noch mal die durchschnittliche Lebenserwartung im Polizeiberuf?«
    Empört fuhr Sternberg auf: »Was soll die Angstmache? Ihr beide habts ja bald geschafft, aber wo bleibt die Perspektive für mich?«
    Das Telefon ersparte Oskar Lindt die Antwort. Er notierte eine Adresse und schob sie Paul Wellmann hin: »Fahrt bitte rüber in die Augartenstraße. Der Notarzt hat Zweifel an einer natürlichen Todesursache. Weiblich, 86.«
    Als Paul und Jan gegangen waren, stopfte sich der Leiter der Mordkommission eine neue Pfeife, zog ein kleinformatiges Schulheft aus seiner Gesäßtasche und begann, darin zu blättern.
    Schon nach wenigen Minuten steckte er es zurück. Eine seltsame Unruhe hatte ihn ergriffen. Fast bereute er, nicht selbst in die Südstadt gefahren zu sein, doch kurz entschlossen wählte er die Nummer der Zentrale,
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