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Der gläserne Wald

Der gläserne Wald

Titel: Der gläserne Wald
Autoren: Reinald Koch
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Zaina, nach altem Recht und Brauch seinen Onkel, den Regenten von der Mauer stürzte, weil er volljährig war und die Herrschaft antreten musste, ließ sich nach der Beerenernte der Große Wagen auf dem Meeresstrand vor der Stadt nieder.«
    Artom zögerte. Er dachte an jenen schrecklichen Tag zurück. Er sah sich in der Nacht neben dem jugendlichen Ämar hinter einer Düne liegen, spürte den Geruch des Meeres und sah den kalten, hellen Nachthimmel, der von Sternen wie versilbert war.
    Er hatte seinem Schüler zum ersten Mal die Ankunft des Großen Wagens zeigen wollen. – Endlich kam er, man sah ihn schon von fern, auf einer Feuersäule über das Meer fahrend. Unter ihm teilte sich kochend das Wasser, und riesige Dampfschwaden wurden von heißen Winden über die Dünen gefegt. Um nicht vom Dampf verbrüht zu werden, mussten die beiden Beobachter schwere Decken und Felle über sich ziehen. – Am Morgen hatten sie sich unter die Kaufherren gemischt, die rings um den Großen Wagen standen. Wie verwundert Ämar gewesen war, dass ein so großer goldener Turm sich in die Luft erheben konnte.
    »Man muss den Leuten von Adapor misstrauen«, hatte er dem jungen Fürsten eingeschärft, »weil sie ihre Macht vor uns verheimlichen. Sie landen bei Nacht, wenn das Wasser am höchsten steht, an einer Stelle, die noch eben von der Flut erreicht wird. Das aufgewühlte Meer schwemmt sehr schnell Sand in die Krater, die das Feuer der Großen Wagen auswirft, und am Morgen bleibt nur eine seichte Pfütze.«
    So hatte er an jenem denkwürdigen Tag zu Ämar gesprochen und hatte doch nicht erwartet, dass sich sein Verdacht schon bald aufs schlimmste bestätigen könnte.
    »Es war ein Handelstag wie jeder andere«, fuhr er zu den Priestern gewandt fort. »Die Männer von Adapor breiteten ihre Handelsware vor den Kaufherren aus, und diese hatten, wie es Brauch ist, die Fässer mit der Beerenessenz in der Stadt gelassen, beschwerten sich bei den Adaporianern über die schlechte Ernte und versuchten, die Preise in die Höhe zu treiben.
    Plötzlich kam Besessenheit über den Kaufherrn, der vor mir stand. Er schrie und brüllte wie der Geist der heiligen Wasser, dann krümmte er sich, zog sein Messer und stieß es dem nächsten Adaporianer in den Bauch. Der wurde aschgrau im Gesicht und taumelte rückwärts. Doch bevor er fiel, riss er ein gekrümmtes Eisen aus dem Gürtel. Daraus fuhr ein grelles Licht – in meinen Schädel.
    Erst zehn Tage später kam ich hier im Tempel wieder zu Bewusstsein. Inzwischen hatte der Regent alle Zeugen des Vorfalls hinrichten lassen außer Ämar – natürlich – und mir. So kommt es, dass ihr noch nie von dieser Sache gehört habt.
    Unser Erlauchter Fürst berichtete mir später, das furchtbare Licht habe wie eine Säge eine Scheibe des Schädelknochens abgeschnitten, so dass mein Gehirn in der Öffnung sichtbar war. Bevor sich der Fürst aber meiner habe annehmen können, sei er von den Adaporianern zur Seite gedrängt worden. Mich haben sie in ihren Wagen gebracht. – Dort ist mir wohl diese goldene Haube geschmiedet worden. Am neunten Tag nach dem Unglück übergaben sie mich den Wachen des Regenten, die mich in den Tempel brachten.
    Glaubt mir, ihr Söhne der drei Häuser, ich habe nicht vor dem krummen Eisen Angst, denn auch die Bogenschützen der Wache können aus großer Entfernung töten, und es ist gleichgültig, ob man mit Licht tötet oder mit einem Pfeil. – Mehr als den Tod fürchte ich die Kunst der Adaporianer, die einem Mann eine goldene Haube über das Gehirn legen können, ohne dass er daran stirbt!«
    »Du wirst auf deine alten Tage geschwätzig, Priester!« fuhr ihn der Fürst gereizt an. – »Nicht, damit du einmal eine große Stunde hast, ließ mein Onkel die Zeugen jenes Vorfalls vergiften. – Auch habe ich keineswegs die Absicht, die Wachen gegen die Großen Wagen zu führen – wie du vielleicht glaubst.
    Wir, Herr von Zaina, haben am eigenen Schicksal gelernt, dass man die Folgen einer Handlung zur rechten Zeit bedenken soll. - Habt ihr euch nie überlegt, was geschehen würde, wenn nur einer der Großen Wagen sich nicht vom Meer her am Strand niederlässt, sondern über die Stadt fährt?«
    Die Priester starrten Ämar betroffen an, ihre törichten, entsetzt geweiteten Augen bereiteten ihm eine boshafte Befriedigung, die ihn für manches entschädigte; aber nicht für alles – nein! Er beschloss, diesen Augenblick, der seiner Einsamkeit wohl tat, bis zur Neige auszukosten, indem
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