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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum
Autoren: Alexandra Marinina
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plötzlich, dass er erneut darüber nachdachte, wen er umbringen musste, um das zu vermeiden, was er um jeden Preis vermeiden musste. Und er kam zu dem Schluss, dass er niemanden mehr umbringen konnte außer sich selbst.
    Gradow besaß sehr viele negative Charaktereigenschaften, denn er war ein zutiefst unmoralischer Mensch. Doch auch bei strengster und missgünstigster Burteilung konnte man ihm nicht nachsagen, dass er an Unentschiedenheit litt.
    Zwei Stunden später blickte Sergej Alexandrowitsch Gradow, der jetzt in einem Sessel auf seiner gemütlichen, warmen Datscha saß, zum letzten Mal in den schwarzen Lauf seines Revolvers und schloss die Augen. Schon seit dreiundzwanzig Jahren trug er das in sich. Er hatte Vitalij Lutschnikow und Arkadij Nikifortschuk umgebracht und Vika Jeremina und Valentin Kosarj umbringen lassen. Aber er hatte nie Reue oder Schuld empfunden, nur manchmal hatte ihn der Gedanke beunruhigt, das schreckliche Geheimnis, das Tamara Jereminas Wohnung barg, könnte ans Tageslicht kommen. Die Hälfte dieses Geheimnisses war vor zwei Jahren mit Arkadij Nikifortschuk gestorben. Jetzt würde die zweite Hälfte sterben.
    Nach einigen Sekunden drückte er mit ruhiger Hand auf den Abzug.
    * * *
    Gegen Mittag des 31. Dezember hatte Nastja große Mühe, ihre Fassung zu bewahren. Der Mittelsmann hatte kein einziges Mal mehr angerufen, von Gordejew gab es keinerlei neue Nachrichten, sie fühlte, dass ihr die Kontrolle über die Lage endgültig zu entgleiten begann.
    Sie lag auf dem Sofa, mit dem Gesicht zur Wand, versuchte, ihre Nervosität zu bekämpfen, und ging die möglichen Varianten durch. Was war geschehen? Hatten sie von Djakows Verhaftung erfahren? Dann musste sie damit rechnen, dass es jeden Moment an der Tür läuten und Larzew mit dem Revolver in der Hand hereinstürzen würde. Was konnte noch geschehen sein?
    Wie zum Trotz läutete ständig das Telefon. Freunde und Bekannte riefen an, um Glück für das bevorstehende neue Jahr zu wünschen. Bei jedem Läuten zuckte Nastja zusammen wie von einem Stromschlag, das Herz begann ihr im Hals zu klopfen, die Hände wurden feucht. Alle möglichen und unmöglichen Leute riefen an, nur sie nicht. . .
    Gegen acht Uhr abends meldete sich Knüppelchen endlich. Seine Stimme klang traurig.
    »Wie geht es dir, Nastjenka?«
    »Gut«, sagte sie so ruhig wie möglich. »Und wie sieht es bei euch aus?«
    »Bei uns sieht es schlecht aus. Jewgenij Morozow ist tot. Dein Praktikant Oleg Mestscherinow ebenfalls. Wolodja Larzew ist schwer verletzt, ich fürchte, er wird es nicht überleben.«
    »O, mein Gott. . .«
    Nastja knickten die Beine ein, sie musste sich gegen den Schrank lehnen, um nicht umzukippen.
    »Das ist ja grauenvoll. Was ist passiert, Viktor Alexejewitsch?«
    »Das ist eine längere Geschichte. Ich mache dir einen Vorschlag, Kindchen. Nimm deinen genialen Rotschopf und komm mit ihm zu uns. Meine Frau hat für ein ganzes Bataillon gekocht und gebacken, immerhin stehen Feiertage bevor.«
    »Ich kann nicht, Viktor Alexejewitsch, ich kann wirklich nicht.«
    »Doch, du kannst, Nastjenka. Es bewacht dich niemand mehr.«
    »Wie bitte? Was?«, murmelte sie konsterniert.
    »Es ist so, wie ich sage. Fistin ist verhaftet, Larzews Tochter ist wieder frei, der Abgeordnete der Staatsduma Sergej Alexandrowitsch Gradow hat sein Schicksal selbst besiegelt, ohne unser Zutun.«
    »Was heißt das?«
    »Er hat sich erschossen.«
    »Bedeutet das, dass alles vorbei ist?«
    »Ja. Nichts ist so gekommen, wie wir es wollten, aber es ist vorbei. Warum sagst du nichts?«
    »Ich weine«, stieß sie unter Tränen hervor. Die unmenschliche Anspannung war endlich von ihr abgefallen, und nun kam die Reaktion.
    »Weine ruhig ein bisschen. Und anschließend zieht ihr euch an und kommt vorbei. Hier können wir uns in Ruhe unterhalten.«
    * * *
    Die Neujahrsnacht im Haus von Oberst Gordejew verlief nicht besonders fröhlich. Um Mitternacht tranken sie zu viert ein Glas Sekt und stocherten anschließend lustlos in dem schmackhaften Essen auf ihren Tellern herum. Niemand tat so, als sei alles in Ordnung. Nadeschda Andrejewna, seit dreißig Jahren mit einem Kripobeamten verheiratet, verstand alles ohne Worte und erhob sich bei der ersten passenden Gelegenheit vom Tisch.
    »Euch beiden brennt es auf der Seele, ihr müsst miteinander reden«, sagte sie. »Alexej und ich schauen uns einstweilen einen Film an.«
    Nastja hob den Kopf und begegnete Ljoschas Blick. Sie wirkte angespannt.
    »Bitte,
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