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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum
Autoren: Alexandra Marinina
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sie irgendwann mal in einem Haus gewohnt, auf derselben Etage, und seit er am Theater arbeitete, besuchte sie drei, vier Mal im Jahr seine Proben. Sie kam nur aus einem einzigen Grund: Sie wollte sehen und begreifen, auf welche Weise Gestik und Mimik zur Entstehung einer bestimmten Figur beitrugen. Grinewitsch hatte nichts gegen Nastjas Besuche, im Gegenteil, er freute sich immer, wenn seine alte Freundin zu ihm ins Theater kam. Der kleine, halb kahlköpfige Gena, der einem hässlichen, aber lustigen Troll glich, war seit vielen Jahren heimlich in Nastja Kamenskaja verliebt und ungeheuer stolz darauf, dass es bis heute niemand errateil hatte, nicht einmal Nastja selbst.
    »Sie gebärden sich alle, als seien sie Madonna oder Van Damme«, brummte er gereizt. »Ihre Liebe zum Star in sich selbst ist größer als die zum Schauspielberuf und zum Theater. Sie haben schließlich jahrelang an sich gearbeitet, trainiert, geschwitzt, gehungert, alle möglichen Kuren gemacht, um so schön wie möglich zu werden, und nun wäre es natürlich jammerschade, wenn das alles umsonst gewesen wäre. Eine halbe Stunde Pause«, rief er laut.
    Nastja und Grinewitsch gingen zur Kantine und nahmen sich je eine Tasse von dem dünnen, lauwarmen Kaffee.
    »Wie geht es dir, Nastja? Wie steht es zu Hause, was macht die Arbeit?«
    »Immer dasselbe. Meine Mutter ist in Schweden, mein Vater unterrichtet und hat nicht vor, in Pension zu gehen. Die Menschen bringen einander um und wollen aus irgendeinem Grund nicht, dass man sie dafür bestraft. Es gibt nichts Neues.«
    Grinewitsch streichelte vorsichtig Nastjas Hand.
    »Bist du müde?«
    »Ja, sehr«, gestand sie, ohne ihre Augen von der Kaffeetasse zu heben.
    »Hast du vielleicht deine Arbeit satt?«
    »Na hör mal!« Nastja sah den Regieassistenten mit einem vorwurfsvollen Blick an. »Was redest du denn da! Ich bin manchmal furchtbar müde, meine Arbeit ist sehr schmutzig, im direkten und im übertragenen Sinn, aber ich liebe sie. Du weißt, Gena, ich kann so manches, als Übersetzerin könnte ich viel mehr Geld verdienen, oder ich könnte Nachhilfeunterricht geben. Aber ich will nur in meinem Beruf arbeiten.«
    »Bist du immer noch ledig?«
    »Die obligatorische Frage!«, lachte Nastja. »Du stellst sie mir jedes Mal, wenn wir uns sehen.«
    »Und die Antwort?«
    »Ebenfalls die obligatorische. Ich habe doch gesagt, dass es in meinem Leben nichts Neues gibt.«
    »Aber du hast doch jemanden, oder?«
    »Ja, natürlich. Es ist immer noch Ljoscha Tschistjakow. Der ist auch obligatorisch.«
    Grinewitsch schob seine Tasse zur Seite und sah Nastja aufmerksam an.
    »Sag mal, ist dein Leben vielleicht irgendwie eintönig und langweilig? Du gefällst mir heute überhaupt nicht. So sehe ich dich zum ersten Mal, und dabei kenne ich dich schon . . . wie lange eigentlich?«
    »Vierundzwanzig Jahre. Als ihr bei uns im Haus eingezogen seid, war ich neun und du vierzehn. Du solltest gerade in den Komsomol aufgenommen werden, aber wegen des Umzugs hattest du die Schule wechseln müssen, und dort sagte man dir, man kenne dich noch nicht und könne dich deshalb der Komsomolleitung nicht empfehlen. Alle wurden in der achten Klasse aufgenommen, und du erst in der neunten. Du hast dir das damals schrecklich zu Herzen genommen.«
    »Woher weißt du das?«, fragte Gena verwundert. »Wir hatten damals doch gar nichts miteinander zu tun, du warst viel zu jung für mich. Ich erinnere mich genau, dass wir uns erst anfreundeten, als wir von unseren Eltern jeder einen Welpen aus demselben Wurf geschenkt bekamen. Ich glaube, bis dahin bin ich kein einziges Mal bei euch in der Wohnung gewesen.«
    »Aber dafür waren deine Eltern bei uns. Und sie haben alles über dich erzählt. Vom Komsomol, von dem Mädchen aus der neunten Klasse und von der Kontrollarbeit in Physik.«
    »Ich verstehe nicht, wovon du sprichst.«
    »Von der Kontrollarbeit, die du nicht schreiben wolltest. Du hast eine heiße Dusche genommen und bist mit nassen Haaren, bekleidet nur mit einem Schlafanzug, auf den Balkon hinausgegangen, und das mitten im Februar, draußen lag Schnee. Dort haben deine Eltern dich schließlich gefunden.«
    »Und was war weiter?«
    »Nichts. Du hattest eine unverwüstliche Gesundheit und musstest die Kontrollarbeit trotzdem schreiben. Du hast nicht einmal einen Schnupfen bekommen.«
    »Nicht zu fassen!« Grinewitsch brach in herzhaftes Gelächter aus. »Daran kann ich mich absolut nicht mehr erinnern. Du bindest mir nicht zufällig
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