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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum
Autoren: Alexandra Marinina
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gut in ihrer Wohnung angekommen, denn gegen 23 Uhr desselben Tages hatte sie mit einer Freundin telefoniert, um sich für den Sonntag mit ihr zu verabreden. Dabei hatte sie keinerlei Andeutungen gemacht, aus denen man hätte schließen können, dass sie vorhatte, Moskau zu verlassen. War Vika während dieses Telefonats allein in der Wohnung gewesen? Der Mann, der sie nach Hause gebracht hatte, behauptete, er habe versucht, sich von Vika zu einer Tasse Kaffee in ihre Wohnung einladen zu lassen, aber die junge Frau habe abgelehnt. Sie war angeblich zu müde und hatte ihn auf ein anderes Mal vertröstet. Daraufhin hatte er die Dame zum Lift begleitet und sich mit einem Handkuss von ihr verabschiedet. Ob der Mann die Wahrheit sagte? Wie konnte man das überprüfen?
    An diesem Freitag ab 23 Uhr tritt vollkommenes Schweigen ein. Niemand mehr bekommt einen Anruf von Viktoria Jeremina, niemand mehr sieht sie an Orten, an denen man sie kennt, und sie nimmt auch das Telefon nicht mehr ab. War sie nicht zu Hause, oder ging sie aus irgendeinem Grund nicht ans Telefon? Und wo konnte sie in der Zeit vom 23. bis 30. Oktober abgeblieben sein? Sollte sie tatsächlich eine ganze Woche lang so betrunken gewesen sein, dass sie nicht in der Lage war, irgendwo anzurufen, weder im Büro noch bei ihrem Freund?
    Als Nastja aus ihren Gedanken auftauchte und von den Papieren auf ihrem Schreibtisch aufsah, war es bereits fast acht Uhr abends. Sie nahm den Hörer des internen Telefons ab und wählte Gordejews Nummer.
    »Viktor Alexejewitsch, wer ermittelt im Fall Jeremina?«
    »Du.«
    Die Antwort kam so überraschend, dass Nastja fast der Hörer aus der Hand gefallen wäre. All die Jahre, seit sie bei der Kripo war, hatte sie nur Auswertungsarbeit gemacht, sämtliche Fälle, für die Gordejews Abteilung zuständig war, kamen zur Auswertung auf ihren Tisch. Sie arbeitete den Ermittlungsbeamten zu, die auf der Suche nach Zeugen und Beweisen Tag und Nacht unterwegs waren, riskante Operationen durchführten, sich in kriminelle Gruppierungen einschleusten und gefährliche Verbrecher festnahmen. Aber alle Informationen, die sie erbeuteten, trugen sie erst einmal zu Nastja und ließen die Last erschöpft auf ihren Schreibtisch fallen. Nastja würde sich schon zurechtfinden, das wussten sie, sie würde alles in die richtigen Kästchen einordnen und diese mit den entsprechenden Aufschriften versehen, sie würde das Wichtige vom Unwichtigen trennen, jede Information abwägen und auf ihre Richtigkeit überprüfen, sie würde die Zusammenhänge mit anderen Fällen entdecken und jede einzelne Information so lange drehen und wenden, bis sie den richtigen Platz dafür gefunden hatte. Sie würde ihren Computer anstellen, den berühmten Computer in ihrem eigenen Kopf, der keinen Strom brauchte, sondern nur reichlich Kaffee und Zigaretten, und am nächsten oder spätestens übernächsten Tag würde sie den Ermittlungsbeamten ihre Versionen mitteilen und weitere Vorgehensweisen vorschlagen. Nastja wertete alle Fälle von Mord, Körperverletzung und Vergewaltigung aus, und am Ende eines jeden Monats legte sie Gordejew ihren Auswertungsbericht vor. Anhand dieses Berichts konnte Viktor Alexejewitsch sich nicht nur ein Bild von den typischen Fehlern und Unterlassungen machen, die den Beamten bei ihrer Arbeit unterliefen, sondern auch von neuen, einfallsreichen Ermittlungsmethoden und vor allem von bisher unbekannten Vorgehensweisen, Methoden und Motiven der Täter.
    Nastjas Aufgabe bestand in mühsamer, akribischer Schreibtischarbeit, und auf nichts war sie weniger vorbereitet als darauf, dass ihr Chef ihr die Ermittlungen im Fall Jeremina übertragen würde.
    »Darf ich kurz bei Ihnen vorbeikommen?«, fragte sie.
    »Ich rufe zurück«, erwiderte Gordejew kurz angebunden, offenbar hatte er gerade eine Besprechung.
    Als es endlich so weit war und sie das Büro ihres Chefs betrat, stand dieser mit dem Rücken zu ihr am Fenster und klopfte mit einer Münze nachdenklich auf der Scheibe herum.
    »Es sieht nicht gut aus bei uns, Nastjenka«, sagte er, ohne sich umzuwenden. »Irgendeiner von unseren Jungs ist nicht sauber. Vielleicht sind es auch mehrere. Oder sogar alle. Außer dir.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Ich habe deine Frage nicht gehört.«
    »Ich habe sie auch nicht gestellt. Ich wollte nur wissen, warum alle außer mir. Womit habe ich so viel Vertrauen verdient?«
    »Das ist kein Vertrauen, das ist Kalkül. Du hast keine Möglichkeit, unehrlich zu sein, weil du
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