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Nayidenmond (German Edition)

Nayidenmond (German Edition)

Titel: Nayidenmond (German Edition)
Autoren: Sandra Gernt
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1.
     
    „Der Anfang der Dinge liegt in der Ewigkeit. Ewig ist der Neubeginn, aus dem immer Neues entspringt, in dem das Ende bereits begründet liegt.“
    Aus: „Weissagungen des Ebano“
     
    „Rouven!“ Die zornige Stimme von Prinz Barlev hallte über den Palasthof von Vagan, der Hauptstadt des Großkönigsreichs Kyarvit. Mit langen Schritten eilte er auf seinen jüngeren Bruder zu, der gerade inmitten einer Gruppe Adliger und Diener stand und half, einen verletzten Mann vom Pferd zu heben. Offenkundig waren sie auf einem Jagdausflug gewesen – ihre Kleidung und Waffen ließen keinen Zweifel daran –, der in einem Unglück geendet hatte. Mehr als die Hälfte der Männer war verwundet, zwei von ihnen so schwer, dass sie bewusstlos fortgetragen werden mussten. Die provisorischen Verbände konnten nicht verbergen, dass die Beine der Männer regelrecht zerfetzt worden waren. Auch eines der Pferde stand mit blutigen Flanken abseits und wurde gerade von einem Stallknecht versorgt.
    Man erkannte die Ähnlichkeit der Brüder sofort: Sie hatten dunkles Haar, das sich in widerspenstigen Wellen und Wirbeln jedem Versuch höfischer Frisurenmode verweigerte; beide waren von schlankem, athletischen Körperbau und besaßen ein feuriges Temperament, das ihnen gerade durchzugehen drohte.
    Barlev starrte aus dunklen Augen auf seinen etwas kleineren Bruder nieder, der mit ungewöhnlich grün schimmernden Augen wütend zurückblitzte.
    „Was hast du jetzt wieder angestellt? Du solltest unsere Gäste auf die Jagd begleiten, es war nicht die Rede davon, sie umzubringen!“
    „Herr, ein wilder …“, versuchte sich einer der Adligen zu Rouvens Gunsten einzumischen, doch Barlev schnitt ihm ungeduldig das Wort ab.
    „Es war deine Verantwortung, du solltest eine sichere Route um den See herum wählen. Hast du sie zu den Grotten geführt? Weil die ja so viel schöner sind?“
    Rouven versuchte zu Wort zu kommen und lief hochrot an, als Barlev ihn schon wieder niederschrie: „Wann wird es endlich in deinen Schädel gehen, dass Leichtsinn tödlich sein kann? Nicht nur für dich, sondern auch für alle anderen? Du bist zwanzig Jahre alt, kein Kleinkind mehr! Du bist eine Schande für unsere Familie, du hast nichts als Unfug im Kopf! Man hätte dir niemals selbst solch geringe Verantwortung für Mensch und Tier überlassen dürfen!“
    Mittlerweile beobachteten alle, wie Prinz Barlev seinen Bruder vor der gesamten Dienerschaft demütigte.
    „Man kann von Glück reden, dass offenbar niemand umgekommen ist! Und du bist unverletzt – hast du dich auf einen Baum retten können?“
    „Es reicht!“, zischte Rouven. Er schaffte es gerade noch auszuweichen, als Barlev nach ihm ausholte. Der wurde davon nur noch zorniger, packte seinen Bruder am Arm und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.
    „Vier Suchtrupps sind wegen euch unterwegs, zwei Männer wurden schwer verwundet und Gott gebe, dass sie überleben und keine Gliedmaßen verlieren werden. Ein gutes Pferd wäre beinahe draufgegangen und das ist alles deine Schuld! Sei froh, dass Vater nicht hier ist, sonst könntest du dich auf weitaus mehr gefasst machen als eine kleine Ohrfeige!“
    „Hör auf mich zu verurteilen, bevor du überhaupt weißt, was geschehen ist!“, begehrte Rouven auf. „Es war nicht meine Schuld, wir …“
    Weiter kam er nicht. Barlev stieß ihm hart vor die Brust und grollte: „Natürlich, es war mal wieder jeder andere Schuld, nur unser Prinz Sonnenschein nicht. Ich schäme mich, dein Bruder zu sein!“
    Als hätte man ihm ein Messer in den Bauch gerammt, verlor Rouven jegliche Gesichtsfarbe, die Spannung wich aus seinem Körper und er starrte Barlev verloren aus großen Augen an, in denen sich schieres Entsetzen spiegelte. Auch Barlev spürte, dass er zu weit gegangen war; mit einem Mal war sein Zorn verraucht. Er blickte sich verwirrt um, bemerkte erst jetzt, wo er überhaupt war und was er hier gerade getan hatte.
    Rouven wich einen Schritt von ihm zurück.
    „So“, sagte er tonlos, „ du schämst dich. Nun, dann bist du ja in allerbester Gesellschaft.“ Er wirbelte herum und lief durch die Menge der versammelten Diener, Knechte und Mägde davon.
    „Rouven? Rouven, warte!“ Barlev eilte ihm nach, erwischte ihn gerade noch am Hemdsärmel. Doch Rouven riss sich los und rannte wortlos weiter.
    Barlev kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel und blieb so für einen Moment stehen. Dann ging er langsam in die andere Richtung
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