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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum
Autoren: Alexandra Marinina
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Und was uns beide betrifft, so wirst du schließlich nicht aufhören, mich zu besuchen, nur weil ich vielleicht irgendwann nicht mehr der Mann deiner Mutter sein werde, nicht wahr?«
    »Natürlich nicht, Papa. Ich liebe dich sehr, wie meinen leiblichen Vater«, sagte Nastja traurig.
    »Und ich liebe dich, Kind. Verurteile deine Mutter nicht. Und mich übrigens auch nicht.«
    »Ich weiß«, sagte Nastja. »Wirst du mich mit ihr bekannt machen?«
    »Ist es nötig?«, lachte Leonid Petrowitsch.
    »Jedenfalls ist es interessant.«
    »Gut, wenn es interessant ist, dann mache ich euch bekannt. Aber versprich mir, dass du nicht traurig sein wirst.«
    * * *
    Nastja schlief erst gegen Morgen ein. Das, was sie von ihrem Chef erfahren hatte, ließ ihr keine Ruhe. Dass die Mafia sich Leute bei der Miliz kaufte, war nichts Neues. Doch wenn das andern passierte, in einer anderen Abteilung, in einer anderen Stadt, nahm man das als einen Teil der objektiven Wirklichkeit wahr, die man im Auge behalten und bei der Auswertung von Informationen und bei Entscheidungsfindungen berücksichtigen musste. Aber wenn so etwas in der unmittelbaren Nähe auftrat, in der eigenen Abteilung, im Freundeskreis, dann wurde aus einem dienstlichen Problem ein moralisch-psychologisches, das man nicht so ohne weiteres lösen konnte. Wie sollte Nastja jetzt Weiterarbeiten? Wie sollte sie sich ihren Kollegen gegenüber verhalten? Wen sollte sie verdächtigen? Alle? Diejenigen, die sie weniger mochte, genauso wie die, die ihr sympathisch waren und mit denen sie aufrichtige Freundschaft verband? Und wenn ihr etwas Verdächtiges an einem ihrer Kollegen auffallen würde, was sollte sie dann tun? Zu Knüppelchen laufen und ihm ihren Verdacht mitteilen? Oder sollte sie es für sich behalten und sich einreden, dass sie sich getäuscht hatte? Durfte man Freunde verraten, oder verbot sich das, selbst dann, wenn sie im Unrecht waren? Musste man sie vielleicht ihren Feinden überlassen? Aber wer war in diesem Fall der Feind? Die Personalaufsicht der Kripo oder doch der Kollege, der der Mafia illegale Dienste erwies? Zahllose Fragen und keine einzige Antwort.

ZWEITES KAPITEL
    Nastja betrat zum ersten Mal das Büro des Untersuchungsführers Konstantin Michajlowitsch Olschanskij im Gebäude der städtischen Staatsanwaltschaft. Sie kannte Olschanskij seit langer Zeit, war ihm bisher aber immer nur in der Petrowka begegnet. Er war ein kluger Mensch und ein erfahrener Untersuchungsführer, sehr gebildet, gewissenhaft und beherzt, aber aus irgendeinem Grund mochte Nastja ihn nicht. Sie hatte schon oft herauszufinden versucht, warum das so war, aber sie war nie zu einem Ergebnis gekommen. Sie wusste, dass auch andere ihn nicht mochten, obwohl sie ihn als Fachmann sehr schätzten.
    In seiner äußeren Erscheinung machte Konstantin Michajlowitsch den Eindruck eines tollpatschigen Unglücksraben: ein immer verlegener Blick, ein zerknittertes Jackett, auf der Krawatte stets ein Fleck von unbekannter Herkunft, ungeputzte Schuhe, eine Brille mit einer lächerlich altmodischen Fassung. Er hatte eine äußerst lebendige, unkontrollierte Mimik, und besonders dann, wenn man ihn beim Schreiben beobachtete, musste man sich mit Mühe das Lachen verkneifen angesichts der Grimassen, die er dabei schnitt. Zugleich konnte er sehr unhöflich und schroff sein, aus irgendeinem Grund besonders im Umgang mit den Gutachtern. Er befasste sich geradezu fanatisch mit Kriminalistik, las die gesamte neue Literatur bis hin zu Dissertationen und Konferenzberichten. Bei Tatortbesichtigungen stand er den Gutachtern buchstäblich auf den Füßen, stellte schier unmenschliche Anforderungen an sie und verwirrte sie mit völlig überraschenden Fragen.
    Olschanskijs Büro war ein Abbild seiner selbst. Auf der polierten Oberfläche des Beistelltisches zahllose Abdrücke von Teegläsern, ein heilloses Durcheinander auf dem Schreibtisch, der grüne Plastikschirm der Leselampe ergraut unter einer Schicht von Ewigkeitsstaub. Auch dieses Büro gefiel Nastja nicht.
    Olschanskij begrüßte sie zwar freundlich, fragte aber sofort nach Larzew. Wolodja Larzew hatte in der Zeit vom dritten bis elften November gemeinsam mit Mischa Dozenko im Auftrag des Untersuchungsführers im Mordfall Viktoria Jeremina ermittelt, und Konstantin Michajlowitsch hatte einen der beiden in seinem Büro erwartet. In Gordejews Abteilung war bekannt, dass Olschanskij Larzew besonders schätzte. Er unterstellte ihm eine besonders gute
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