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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum
Autoren: Alexandra Marinina
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eine Klinik eingewiesen werden musste. Eine solche Erkrankung nennen wir paranoidschizoide Psychose. Menschen, die unter so einer Psychose leiden, können sehr gefährlich werden. Sie hören Stimmen, die ihnen Befehle erteilen und sie zu allem zwingen können, bis hin zum Mord an einem zufälligen Passanten. Ebenso leicht können solche Menschen Opfer eines Verbrechens werden, da sie äußere Umstände und Situationen nicht adäquat einschätzen können, besonders in Momenten, in denen sie unter dem Einfluss der Ratschläge stehen, die ihnen die Stimmen erteilen. Ich habe Kartaschow gesagt, dass die Einweisung in eine Klinik nicht ohne Zustimmung seiner Bekannten erfolgen kann, solange sie keine ungesetzliche Handlung begeht und bei der Miliz landet. Kartaschow erklärte mir, dass seine Bekannte eine Behandlung kategorisch ablehnt und sich für vollkommen gesund hält. In so einem Fall lässt sich leider nichts machen, eine Zwangseinweisung ist, wie schon gesagt, nur dann möglich, wenn der Kranke durch sein Verhalten die Aufmerksamkeit der Miliz auf sich zieht.«
    In der Akte befanden sich noch einige Protokolle mit Aussagen von Kartaschow, von Kollegen und Bekannten der Ermordeten. Aus diesen Protokollen ging nichts Neues hervor. Nastja fiel eine Liste mit Adressen von Orten auf, die Viktoria gewöhnlich aufsuchte, um sich zu betrinken. Der Liste waren sechs Aussagen beigefügt, denen zufolge die Jeremina in der Zeit vom 23. Oktober bis 1. November an keinem dieser Orte gesehen worden war. Zwei der Adressen hatte man noch nicht überprüft.
    Nastja schloss die Akte und blickte auf. Der Untersuchungsführer saß mit dem Rücken zu ihr auf einem unbequemen Stuhl und tippte eifrig auf der Schreibmaschine.
    »Konstantin Michajlowitsch!«, sprach sie ihn an.
    Er wandte sich abrupt um und stieß dabei mit dem Ellenbogen gegen einen Papierstapel. Die Papiere flogen nach allen Seiten auseinander, einige fielen zu Boden. Doch das schien Olschanskij nicht im Geringsten zu beeindrucken.
    »Ja?«, sagte er völlig ruhig, so, als sei überhaupt nichts geschehen, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen.
    »Ich habe drei Fragen an Sie. Eine dienstliche und zwei private.«
    »Fang mit den privaten an«, sagte der Untersuchungsführer gutmütig. Er hatte den Kopf wie ein Vogel zur Seite geneigt und drückte mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel zusammen. Wie alle kurzsichtigen Menschen sah er ohne Brille verwirrt und hilflos aus. Etwas hatte sich an ihm verändert, Nastja bemerkte, dass er ein ungewöhnlich schönes Gesicht und riesige Augen mit fast mädchenhaft langen Wimpern hatte. Seine dicken Brillengläser machten seine Augen klein, und das vielfach geklebte und geflickte Gestell entstellte sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit.
    »Reicht Ihnen Ihr Gehalt?«
    »Es kommt darauf an, wofür«, erwiderte Olschanskij schulterzuckend. »Es reicht völlig aus, um nicht unter einem Zaun zu krepieren. Aber für ein gutes Leben reicht es nicht.«
    »Was bedeutet für Sie ein gutes Leben?«, fragte Nastja nach.
    »Für mich persönlich? Du bist unverschämt, Kamenskaja. Soll ich etwa meine Seele vor dir ausbreiten? Dir von meinen Wünschen und Leidenschaften, von meinen Hobbys, meinen familiären Problemen und allem Sonstigen erzählen? Wie komme ich dazu? Sind wir vielleicht miteinander verheiratet, verschwistert oder verschwägert? Rück mit deiner zweiten Frage heraus.«
    Der Untersuchungsführer sprach diese schroffen Worte mit einem freundlichen Lächeln aus, zeigte dabei seine gerade gewachsenen, blendend weißen Zähne, und es war völlig unklar, ob er verärgert war oder scherzte.
    »Ärgert es Sie, dass im Fall Jeremina nicht Larzew ermitteln wird, sondern ich?«
    Olschanskij antwortete nicht sofort, aber das Lächeln auf seinem Gesicht wurde noch breiter.
    »Ich arbeite sehr gern mit Wolodja zusammen, er versteht seine Sache, ein echter Meister seines Faches. Und außerdem ist er mir sehr sympathisch. Ich habe als Mensch und als Untersuchungsführer sehr gern mit ihm zu tun. Mit dir, Anastasija, habe ich bis jetzt noch nie zusammengearbeitet, und ich kenne dich kaum. Ich weiß, dass Gordejew dich immer sehr lobt, aber das sind für mich nur Worte. Ich bilde mir gern meine eigene Meinung über einen Menschen. Bist du mit meiner Antwort zufrieden?«
    »Ehrlich gesagt, nein. Aber mehr werden Sie mir sicher nicht sagen, oder?«
    »Nein.«
    »Dann meine dritte Frage. Wo ist dieser Geschäftsmann, der die Jeremina am 22.
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