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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum
Autoren: Alexandra Marinina
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sein Vater da gewesen, der ihn fast bis zur Hochzeit an der Hand gehalten hatte, später hatte er seine Sekretäre gehabt, seine Beauftragten, seine Referenten, die Speichellecker vom Dienst und schließlich Arsenn. Alle diese Leute überbrachten ihm stets dieselbe Botschaft: »Machen Sie sich keine Sorgen, wir bringen alles in Ordnung.« Jetzt musste er zum ersten Mal der unangenehmen Tatsache ins Auge sehen, dass da niemand mehr war, der die Suppe für ihn auslöffeln konnte.
    Als Nächstes fragte sich Gradow, ob sein Problem wirklich so kompliziert und unlösbar war, wie es schien. Vielleicht war alles ganz einfach, vielleicht brauchte gar nichts gelöst zu werden, weil gar kein Problem existierte. Doch nachdem er noch einige Minuten angestrengt nachgedacht hatte, kam er zu dem wenig tröstlichen Schluss, dass er um Verhaftung und Gefängnis nicht herumkommen würde. Onkel Kolja war ihm natürlich ergeben wie ein Hund, aber was konnte der mit seinem winzigen Verstand schon für ihn tun.
    Die erste Variante war, sich in stolzes Schweigen zu hüllen und keinerlei Aussagen zu machen. Doch die Ermittler von der Petrowka bewerteten Schweigen in der Regel als Schuldeingeständnis. Man konnte sie nicht täuschen, wenn man die beleidigte Unschuld spielte. Wenn einer schwieg, dann hatte er Angst vor dem Sprechen, und wer Angst vor dem Sprechen hatte, der hatte etwas zu verbergen oder deckte einen anderen.
    Variante zwei war Onkel Kolja. Man konnte ihn veranlassen, sich ein solides Lügenmärchen auszudenken und alle Schuld auf sich zu nehmen, so, als hätte Gradow mit der ganzen Geschichte überhaupt nichts zu tun. Das wäre ideal gewesen, aber der Haken an der Sache bestand darin, dass der zwar immer zu allem bereite, aber beschränkte Nikolaj nicht in der Lage war, eine hieb-und stichfeste, von keiner Seite angreifbare Lügengeschichte zu erfinden. Diese Variante entfiel also.
    Und die dritte Möglichkeit bestand schließlich darin, dass Fistin sich als undankbarer, ehrloser Schweinehund erweisen und der Miliz sofort alles erzählen würde, was er über Gradow wusste. In diesem Fall war ohnehin alles klar und jede weitere Überlegung überflüssig.
    Von den drei Varianten, die Gradow in Erwägung zog, schienen nur zwei realistisch zu sein, und beide führten zu Verhaftung und Gefängnis. Insoweit war die Lage also klar. Aber waren Verhaftung und Gefängnis wirklich so schlimm? Konnte man nicht auch das überleben?
    Sergej Alexandrowitsch wusste genau, dass er weder die Gefängniszelle noch das Lager überstehen würde. Darüber brauchte er nicht nachzudenken. Er würde alles im Leben ertragen können, nur eines nicht: das Gefängnis. Die Angst davor verfolgte ihn sein ganzes Leben lang und ließ mit den Jahren nicht etwa nach, sondern wurde stärker. Die Pressefreiheit bescherte eine Vielzahl von literarischen Veröffentlichungen und Dokumentationen darüber, wie es in den Gefängnissen und Lagern wirklich zuging.
    Voller Entsetzen und Ekel, mit fast pathologischer Neugier las Gradow all diese Veröffentlichungen, in denen die schreckliche Wahrheit über die Strafanstalten des Landes ans Tageslicht kam, und er stellte fest, dass diese Wahrheit alle seine albtraumhaften Vorstellungen übertraf. Schließlich bestätigte ein erfahrener Sträfling wie Onkel Kolja, dass alles tatsächlich so war, wie es beschrieben wurde, nur leider noch schlimmer. Offenbar war es den Autoren peinlich, über manche Details zu berichten, zum Beispiel darüber, dass im Untersuchungsgefängnis dreißig bis vierzig Personen in drei Schichten in einer Zelle schliefen und vor aller Augen die Latrine benutzten.
    Nichts auf der Welt fürchtete Gradow so sehr wie das Gefängnis. Als die Gefahr, hinter Schloss und Riegel zu kommen, zum ersten Mal konkret wurde, fiel ihm nichts Besseres ein, als Vitalij Lutschnikow zu ermorden. So brachte er die unselige Tamara Jeremina an seiner Stelle ins Gefängnis. Doch alles das kam ihm nichtig und unbedeutend vor im Vergleich zu der Angst, die ihn innerlich verbrannte. Zum zweiten Mal holte ihn die Gefahr ein, als dieser Schwachkopf von Arkadij ihn mit seinem Ansinnen zu bedrängen begann, alles zu gestehen und Sühne zu leisten. Auch Arkadij musste er beseitigen, um dem Grauen zu entgehen.
    Schließlich tauchte Tamaras Tochter Vika auf. Gradow räumte auch sie aus dem Weg und entging so ein weiteres Mal dem Gefängnis.
    Heute, am 31. Dezember, am Vorabend des Jahres 1994, begriff Sergej Alexandrowitsch
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