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Der Gesang des Satyrn

Der Gesang des Satyrn

Titel: Der Gesang des Satyrn
Autoren: Birgit Fiolka
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Diese Augen werden Geldbeutel öffnen. Sie ist mindestens zweihundert Obolen wert. Aber ich will großzügig sein und mich mit hundert Obolen zufriedengeben.“ Die Stimme der Mutter klang ungewohnt hysterisch. Neaira drängte es immer mehr zu gehen. Sie zerrte an der Hand der Mutter, um sie von der ihr Angst einflößenden Nikarete fortzulocken.
    „Fünfzig Obolen! Das ist mein letztes Angebot. Wenn du es ausschlägst, nimm sie wieder mit und sieh zu, wie du sie durchfütterst. Immerhin muss ich noch Jahre in sie investieren, bis sie mir meine Mühen entlohnen kann.“
    Neairas Mutter verschwendete keine Zeit für weitere Überlegungen. „Gut, fünfzig Obolen.“
    Nikarete zog einen Geldbeutel unter den Falten ihres Chitons hervor. Ohne Eile zählte sie der Mutter fünfzig Obolen in die Hand. Dann endlich schien die Mutter zufrieden. Sie beugte sich zu Neaira hinunter, auf den Lippen ein festgefrorenes Lächeln. „Neaira, du wartest hier bei Nikarete. Ich hole dich morgen ab, wenn die Sonne aufgeht. Sei brav, und mache mir keine Schande.“ Sie fuhr Neaira über das Haar und nickte Nikarete zu. Neaira bekam furchtbare Angst. Als ihre Mutter sich umwandte, wollte sie ihr hinterherlaufen, wurde jedoch von Nikarete am Handgelenk gepackt und festgehalten. „Mama! Mama, geh nicht, nimm mich mit, ich werde auch brav sein, ich verspreche es!“, jammerte sie kläglich. Doch die Mutter wandte sich nicht mehr um - vielmehr beschleunigte sie ihre Schritte, je lauter Neaira nach ihr rief. Ihr Chiton verschwand in der Farbenvielfalt der flatternden Tücher.
    Neaira sah sich gehetzt um. Die Tücher, die gerade noch so freundlich und farbenfroh gewesen waren, erschienen ihr jetzt wie ein Labyrinth, das die Mutter in seinen Tiefen verschluckte. Noch einmal zerrte sie mit aller Kraft an der Hand Nikaretes um freizukommen und hinter der Mutter herzulaufen. Nikarete, deren Geduld schnell erlahmte, zog die schreiende Neaira in das Haus, hinter die rote Tür. Das Herz des Kindes setzte einen Moment aus, als die Tür hinter ihm mit einem dumpfen Laut zufiel. Es war düster und roch nach kalter Asche, die von einem Hauch Blütenduft verdeckt wurde. Neaira meinte, dass es so im Hades riechen musste, wo die Toten als Schatten umherwandelten. Alles lag unter einem Mantel aus Asche, jegliche Empfindungen wären unerreichbar. Neaira aber wusste, dass sie nicht im Hades war, denn sie empfand sehr wohl etwas – Angst.
    „Ich will nicht hierbleiben. Ich will zu meiner Mutter“, klagte sie aufgebracht. Nikarete packte sie noch fester am Handgelenk als zuvor, sodass Neaira schmerzvoll das Gesicht verzog. Sie zwang das aufgebrachte Kind, ihr in die funkelnden Augen zu schauen. „Ich bin nun deine Mutter, Kind! Hier wirst du besser leben als bei diesem Weib, das dich zu mir brachte. Ich schicke dich nun zu deinen neuen Schwestern. Morgen werden wir schauen, wozu du zu gebrauchen bist.“
    Neaira stand stocksteif. Wollte die Frau sie etwa nicht mehr zu ihrer Mutter lassen? Sie musste sofort weglaufen.
    Was wäre, wenn ihre Mutter zurückkam und Nikarete sie nicht zu ihr ließ. Im Hinblick auf diese Vorstellung schüttelte Neaira ihre Angst ab. Es gelang ihr, sich von der Hand Nikaretes loszureißen und ihr mit verzweifelter Wut gegen das Schienbein zu treten. Nikarete heulte auf und fasste sich an das schmerzende Bein, während sie immer wieder einen Namen rief. „Idras!“
    Neaira stob herum und suchte nach dem Riegel der Tür. So hoch schien er zu sein, und sie streckte sich, doch war einfach zu klein, um ihn zu erreichen. Ihre Hände waren nass vom Schweiß – nur ein kleines Stück weiter recken, den Riegel hochschieben und in die Freiheit laufen.
    Ihre Mutter konnte noch nicht weit sein, und sie hatte sich den Weg zurück zur Agora gemerkt. Neaira wischte sich über die Augen, die voller Tränen waren, und streckte weiter ihre Hand nach dem Riegel aus, als eine Welle heißen Schmerzes zuerst durch ihren Rücken, dann durch ihren gesamten Körper fuhr. Mit einem Schrei sackte sie zusammen und wurde von zwei groben Händen wieder auf die Beine gezogen. Noch immer halb vom Schmerz gelähmt fuhr sie herum und blickte in das Gesicht einer riesigen vierschrötigen Frau mit dunkler Haut, deren grell gelber Chiton die massige Körperfülle nur vage verhüllte.
    „Idras, bring sie zu den anderen, die kleine Mänade.
    Schlag sie, aber nicht so hart, dass sie nicht mehr zu gebrauchen ist!“ Neaira hörte nicht auf die Worte von Nikarete, die
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