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Der Gesang des Satyrn

Der Gesang des Satyrn

Titel: Der Gesang des Satyrn
Autoren: Birgit Fiolka
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loszulassen. Sie fühlte sich klein und verloren zwischen dem Tumult. Es wurde ruhiger als sie die Agora verlassen hatten, und endlich verlangsamte die Mutter ihre Schritte. Neaira atmete auf und bemühte sich, nicht zu stark zu humpeln. Bald zog die Mutter sie durch kleinere Straßen und Gassen, hügelabwärts, was das Laufen etwas vereinfachte. Die Menschen, die vor den Häusern und Läden ihrem Tagewerk nachgingen, sahen nur ab und an auf und beachteten sie nicht weiter. Meist waren es Männer, einfache Arbeiter oder Sklaven, die ihnen hinterher sahen. Neaira war Derartiges gewohnt, da es nicht viele Frauen gab, die so ungezwungen durch die Straßen liefen wie ihre Mutter. Diese wehrte einige der Männer ab, die sie anzusprechen versuchten, und zog ihre Tochter fester an sich. Neaira schrie auf, als ihre Mutter sie schmerzhaft am Arm zog, beruhigte sich jedoch schnell wieder. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter böse mit ihr wurde. Als sie nach einer Weile in eine Gasse einbogen, in der vor vielen Häusern bunte Tücher auf Gestellen im Wind flatterten, lachte Neaira auf. Die farbenfrohe Gasse empfand sie fast noch schöner als die Agora mit ihren Feuerspeiern und den vielen Menschen. Sie war versucht, sich in die flatternden bunten Tücher zu werfen. Vielleicht würde sich ihre Mutter auf dem Rückweg ein schönes Tuch für einen Chiton kaufen und es bliebe noch ein Streifen für einen Schal oder einen Gürtel übrig. Neaira bemühte sich, besonders brav zu sein.
    Ihre Mutter blieb stehen und wandte sich zu ihr um.
    „Wie siehst du denn aus? Vollkommen verstaubt, und dein Haar ist wirr.“ Mit fahrigen Bewegungen klopfte die Mutter ihren Chiton aus und fuhr Neaira mit den Fingern durch das Haar. Danach betrachtete sie Neaira kritisch und kniff ihr in die Wangen. „Wir wollen doch nicht, dass du blass und krank aussiehst, wenn wir meine Freundin besuchen, nicht wahr?“
    Neaira war es herzlich, egal wie sie aussah, sie wollte nur nicht mehr laufen. Als hätte Aphrodite ihre heimlichen Gebete gehört, mussten sie nur noch wenige Schritte gehen, bis die Mutter vor einem Haus mit einer rot getünchten Tür stehen blieb und laut gegen das Holz klopfte. Sie schenkte dem Kind ein nervöses Lächeln, und die Nervosität der Mutter legte sich auf das Gemüt des Mädchens. Die kurze Zeit, in der sie warteten, schwiegen sowohl Mutter als auch Tochter.
    Kurz darauf öffnete eine Frau die Tür und musterte die Besucher geringschätzend. Sie war nicht mehr jung, aber auch nicht alt. Eine blumige Duftwolke entstieg ihrem blauen Chiton mit den goldenen Paspeln und Borten. Ihr dunkles Haar war hochgesteckt und wurde von einer auffälligen Tiara gehalten. Sie war schlank, doch die edle Aufmachung stand im Gegensatz zu der grellen Schminke auf dem geweißten Gesicht, das Neaira an die Vermieterin ihres Zimmers daheim erinnerte. Endlich verzogen sich die roten Lippen der Fremden in aufkeimender Erkenntnis zu einem spöttischen Lächeln.
    „Dies ist meine Tochter“, hörte Neaira ihre Mutter steif sagen, woraufhin die Frau Neaira unverhohlen musterte.
    „Ich habe bereits fünf neue Mädchen. Für deine Tochter habe ich keine Verwendung.“ Ihre Stimme klang schrill. Neaira empfand sie als unangenehm. Etwas im Verstand des Kindes sagte ihm, dass es nicht durch diese Tür gehen wollte. Wieder schien Aphrodite selbst Neairas Gebete zu erhören. Ohne ein weiteres Wort wollte die auffällige Frau die Tür zustoßen. Doch Neairas Mutter trat einen Schritt vor, sodass sie im Türrahmen stand. „Sieh sie dir doch an, Nikarete! Sie verspricht, eine wahre Schönheit zu werden.“
    „Ich sehe ihre Mutter“, bekannte Nikarete kühl. „Dies reicht für mein Urteil.“
    „Auch ich war einmal schön, das weißt du sehr wohl – und es war nicht zu deinem Schaden!“ Neaira verstand nicht, was ihre Mutter von der Fremden wollte. Für sie war ihre Mutter die schönste Frau, die sie sich hätte vorstellen können. Unbehaglich zog sie die Mutter am Ärmel des Chitons. „Können wir gehen, Mama?“ Ihre Mutter beachtete sie nicht. Stattdessen maßen sich ihre Blicke mit denen Nikaretes. „Sieh sie dir noch einmal an, Nikarete.
    Man sagt, du hättest ein Auge für so etwas.“
    Wiederum wurde Neaira von Nikarete gemustert, dieses Mal ausführlicher. Ein unbestimmtes Gefühl der Angst stieg in Neaira auf.
    „Ich gebe dir dreißig Obolen für sie.“
    „Bei der großen Aphrodite – hältst du mich für dumm, Nikarete? Sieh dir ihre Augen an.
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