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Der Gesang des Satyrn

Der Gesang des Satyrn

Titel: Der Gesang des Satyrn
Autoren: Birgit Fiolka
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Kunststücke darboten, brachten Neaira zum Staunen, obwohl über all diesen Dingen der brodelnde Gestank einer großen Polis lag. Es stank geradezu erbärmlich an diesem heißen Sommertag, doch Neaira war es egal. Ihre Augen konnten von dem Geschehen um sie herum nicht genug bekommen. Sie kannte nicht viel mehr als die enge staubige Gasse, in der sie mit ihrer Mutter ein ärmliches Zimmer bewohnte, bei einer auffällig geschminkten Frau, die jeden Abend an ihre Tür klopfte und von der Mutter einen Obolus verlangte. Es war eine einsame Straße, in der sie lebten, kaum ein Hund lief tags vorüber, nie schien etwas zu geschehen, was die Eintönigkeit ihres Lebens unterbrach. Bisher hatte das Neaira jedoch nicht gestört. Tagsüber blieb sie allein und beobachtete ihre Mutter von der Fensteröffnung aus, wenn sie in einem leichten Chiton oder an kühleren Tagen in einem Peplos mit rotem Mantel davonging, wobei die Sohlen ihrer Sandalen Muster im Sand der Straße hinterließen. Es war für Neaira ein tröstliches Ritual geworden zu beobachten, wie die Muster nach und nach vom Wind verweht wurden, und erst wenn es dunkel wurde und ihre Mutter heimkehrte, ihre Sandalen erneut Muster in den Sand der Straße zeichneten. So wartete sie Tag für Tag und vertrieb sich die Zeit, indem sie aus dem Fenster sah oder vor der kleinen Statue der Göttin Aphrodite betete, wie sie es von ihrer Mutter kannte, die jeden Abend für die Göttin etwas Mhyrre entzündete und sie darum bat ihre Jugend zu erhalten. Neaira sprach dieselben Gebete an die Göttin. Wie es Kinder gerne tun, plapperte sie ihrer Mutter alles nach. Aphrodite, so wusste Neaira, war ihrer beider Schutzgöttin. Sie brachte ihr kleine Opfer dar - Blumen, die sie am Straßenrand fand, ein paar Tropfen des Duftöls, das ihre Mutter benutzte und schöne Steine, die sie auf der Straße fand. Es waren Schätze jener Art, die nur glänzend erscheinen, solange sie mit Kinderaugen betrachtet werden. Neaira war in der Trostlosigkeit der Gasse niemals einsam. Ihre Welt war die der kindlichen Vorstellungskraft. Wie jedes Kind kannte sie die Schlupflöcher, durch welche sie aus der Enge der Wirklichkeit ausbrechen konnte. Wenn die Mutter am Abend zurückkehrte, brachte sie einen Laib Brot und manchmal harten Käse mit, den sie schweigend aßen. An jenen Abenden war die Mutter immer müde und Neaira, erschöpft von den Abenteuern ihrer kindlichen Gedankenflut, ebenfalls. Nur selten verließen sie gemeinsam die Enge des Zimmers. Dann gingen sie eine Nachbarin besuchen, die ein einfaches, jedoch sauberes Badehaus mit einem marmornen Louterion, einem Waschbecken, besaß. Solche Tage waren für Neaira besonders schöne Tage, denn dann lachte ihre Mutter und wusch ihr das lange braune Haar mit duftendem Öl.
    Der Besuch in Korinth war für Neaira somit das Aufregendste, was sie sich in ihrem jungen Leben vorzustellen vermochte – ihr kam es vor als wären die Abenteuer ihrer Nachmittage auf einmal Wirklichkeit geworden.
    „Wir gehen in Korinth eine alte Freundin besuchen“, hatte Neairas Mutter ihr eines Tages eröffnet und einen neuen Chiton aus einem Korb gezogen, den sie Neaira hatte anziehen lassen. Neaira, die bislang nur zwei Chitone besessen hatte, einen Gelben, den die Mutter aus einem ihrer eigenen abgetragenen Chitone genäht hatte, und einen schlichten weißen, war ehrfürchtig mit den Händen über den hellblauen Stoff gefahren. Heute trug Neaira ihren neuen blauen Chiton und fühlte den Stolz jedes kleinen Mädchens, das ein neues Kleidungsstück trägt.
    „Neaira, jetzt trödele nicht herum. Wir müssen vor Einbruch der Dunkelheit das Viertel der Tuchweber erreicht haben.“
    Mit enttäuschtem Gesicht wandte das Mädchen sich von den Akrobaten ab und stolperte hinter ihrer Mutter her. „Ich habe Hunger, Mama“, nörgelte sie, als sie am Stand eines Händlers vorbeikamen, der dampfende Brotlaibe von seinem Karren lud. Neaira lief das Wasser im Mund zusammen.
    „Wenn du brav bist, kaufe ich dir auf dem Rückweg Datteln, aber jetzt müssen wir uns beeilen.“
    Neaira entging nicht der ungeduldige Ton in der Stimme ihrer Mutter. Begehrlich starrte sie auf die dampfenden Brotlaibe, doch die Aussicht auf süße Datteln ließ sie schließlich ihre Enttäuschung vergessen. Obwohl Neairas Füße schmerzten und sie Blasen zwischen den Zehen hatte, ließ sie sich weiter durch die schwitzenden Menschleiber ziehen. Neaira bemühte sich krampfhaft, die Hand ihrer Mutter nicht
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