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Der Geheimnistraeger

Der Geheimnistraeger

Titel: Der Geheimnistraeger
Autoren: Thomas Kanger
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Vorlesung sprechen können. Sie hätte ihn angelächelt. Aber jetzt ging sie einfach an ihm vorbei und noch dazu in die falsche Richtung. In einer weißen, kurzärmeligen Bluse und Jeans und mit einem Rucksack, der vermutlich voller Bücher war. Er hätte sich auf die Erde werfen und ihren Schatten küssen mögen.
    Stattdessen zögerte er etwas zu lange. Sie verschwand um die Ecke, ehe er sich noch gelähmt von den Möglichkeiten, die sich ihm offenbart hatten, von der Stelle bewegen konnte. Seine lächerliche Schüchternheit betrübte ihn zutiefst, und er ließ den Kopf hängen. Als er ihn wieder hob, schaute er in ihr Gesicht. Sie kam geradewegs auf ihn zu und sah ihm in die Augen.

    »Verfolgst du mich?«
    Die Frage ließ ihn erzittern. »Nein, überhaupt nicht!«, antwortete er mit verzweifelter Stimme.
    »Warum bist du mir dann unlängst hinterhergerannt, und warum sehe ich dich jetzt zum vierten Mal in genauso vielen Tagen, und warum hast du mich letzten Montag die ganze Vorlesung lang angestarrt?«
    Sie schien ihn mit ihren Fragen zu durchlöchern, während Paolo die Luft wegblieb.
    »Weißt du denn nicht, dass wir Frauen sexistisches Verhalten nicht mehr hinnehmen und unerbittlich gegen all jene vorgehen werden, die auch nur im Geringsten wie chauvinistische Männerschweine wirken?«
    Paolo sah ein, dass die Schlacht verloren war. »Ich habe dich überall gesucht«, gab er resigniert zu. »Du bist schöner als die alten Paläste Bolognas.«
    Sie sah ihn einen Augenblick wütend an, dann lachte sie. »Das ist das dümmste Kompliment, das ich je gehört habe«, sagte sie.
    Er fühlte sich beinahe noch verzweifelter, er war nicht nur ein sexistischer Stalker , er war ein einfältiger sexistischer Stalker. Sie schwiegen beide, sie lachte nicht mehr.
    »Was willst du eigentlich?«, fragte sie schließlich.
    »Ich weiß nicht«, antwortete er. »Dich kennenlernen.«
    »Und wer bist du?«
    Das war eine Frage, die Paolo nicht beantworten konnte. Stattdessen streckte er die Hand aus und sagte seinen Namen. Sie zögerte einen Augenblick. Dann nahm sie sie. »Francesca«, sagte sie. »Jetzt hast du mich kennengelernt.«
    Er sah ein, dass sie überhaupt nicht die war, die er sich vorgestellt hatte. Nicht das sanfte Wesen, das er sich in seiner Fantasie vorgestellt hatte. Das machte ihm etwas Mut, er konnte vielleicht
mit ihr reden wie mit einigen seiner Freunde. Er brauchte sie nicht wie eine Porzellanpuppe zu behandeln.
    »Können wir nicht was zusammen unternehmen?«, fragte er.
    »Zum Beispiel was?«
    »Vielleicht … irgendwohin gehen. Uns unterhalten.«
    Sie schien eine Weile nachzudenken. »Komm heute Abend in die Via Benedetto XIV. Das ist eine Querstraße der Via Zamboni. Dort gibt es ein Café mit Buchhandlung, das 77 heißt.«
    Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging. Er sah hinter ihr her. Er wollte weinen, ein Schussverletzter, der gegen alle Wahrscheinlichkeit überlebt hat.

4. Kapitel
    Paolo konnte das »77« erst nicht finden, aber nachdem er eine Weile auf beiden Seiten der Gasse gesucht hatte, stieß er neben einer Klingel auf ein kleines handgeschriebenes Schild. Die Klingel befand sich zwischen einer niedrigen Eisentür und einem vergitterten Fenster. Er drückte die Klinke hinunter: abgeschlossen. Dann klingelte er und wartete. Die Tür wurde geöffnet, und vor ihm stand Francesca. Er bemerkte, dass sie jetzt einen schwarzen Pullover trug.
    »Ciao«, sagte sie. Er erwiderte ihren Gruß und musste den Kopf einziehen, um eintreten zu können. Er ging eine Treppe hinunter und betrat ein Kellerlokal mit schmalen länglichen Fenstern direkt unter der Decke. Durch das dicke Fensterglas hatte man eine verzerrte Sicht nach draußen. An zwei Wänden standen Regale. In einem Ständer fanden sich etwa ein Dutzend Zeitschriften. Vor der dritten Wand stand ein Tresen mit einer Kaffeemaschine, einem Brotkorb und einer altmodischen Kasse. An dem Kühlschrank hinter dem Tresen stand auf einem Zettel zu lesen, dass man für dreitausend Lire verschiedene Salate kaufen könne. In dem Raum waren vier Tische aufgestellt. An zweien von ihnen saßen schwarzgekleidete Personen in Paolos Alter, die rauchten und sich unterhielten. Keiner verschwendete auch nur einen Funken Energie
darauf, den Kopf zu heben und den Neuankömmling anzuschauen.
    An der vierten Wand befanden sich die Tür zur Toilette und eine weitere, ebenfalls geschlossene Tür. Paolo vermutete, die Tür zum Hinterzimmer.
    »Ich muss nur rasch was fertig
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