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Der Geheimnistraeger

Der Geheimnistraeger

Titel: Der Geheimnistraeger
Autoren: Thomas Kanger
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und damit wird es schwer, teuer zu verkaufen, denn wer soll kaufen? Diesem Widerspruch wird das Kapital nie entgehen.«
    »Neue Märkte?«, schlug Paolo vor.
    »Klar«, erwiderte Francesca, »aber da muss man dann mit anderen Kapitalbesitzern mit demselben Ehrgeiz konkurrieren. Das führt zu Handelskriegen und zu bewaffneten, imperialistischen Kriegen. Das löst den Widerspruch nicht. Bald stehen sie mit einem gesättigten Markt und einer ausgebeuteten Arbeiterklasse da.«
    »Mein Vater war sein ganzes Leben lang in der PCI«, sagte Paolo. »Er kämpfte dafür, dass die Arbeiter einen größeren Teil des Mehrwerts bekommen würden.«

    »Die PCI hat doch nur im Spiel der Kapitalisten mitgespielt«, meinte Francesca. »Das Einzige, was die Partei forderte, war mehr Platz am Spieltisch. Die Spielregeln haben sie nicht verworfen. Und was ist passiert? Jedes Mal, wenn die Löhne erhöht wurden, wurden die Arbeiter wegrationalisiert. Und wenn das Kapital nicht schnell und umfassend genug rationalisieren konnte, dann wurde die Produktion ins Ausland verlegt. Jeder Streik, der zum Sieg führte, führte auch zum Verlust. Der Kampf um die Löhne ist tot. Genauso tot wie die PCI.«
    Und mein Vater, dachte Paolo.
    Sie beugte sich zu ihm vor. »Dann erfinden sie neue Menschen«, sagte sie. »Unter den Fließbändern des Taylorismus und Fordismus waren wir Zahnräder in der Maschine. Jetzt machen sie uns zu Konsumenten. Sie reden uns ein, dass wir uns frei entscheiden, wenn wir für unser Auto grünen oder blauen Lack wählen oder die eine oder andere Kleidermarke tragen. Aber wir wählen nicht, wir werden von der Reklame des Kapitals dazu erzogen, zu glauben, dass wir Individuen mit einem freien Willen sind.«
    Er ertappte sich dabei, dass er ihr nicht in die Augen schaute. Nicht aus Schüchternheit, sondern weil sein Blick stattdessen ihren Mund fixiert hatte, der so unendlich weich zu sein schien. Er akzeptierte alle ihre Behauptungen, sie lagen auf einer Linie mit seinen eigenen, weniger klar artikulierten Ideen, und sie brachte sie mit vollkommener Überzeugung vor. Er sorgte sich etwas, dass sie nicht lächelte, fand aber, dass ihre Wahl des Gesprächsthemas darauf hindeutete, dass sie ihn ernst nahm. Er war es wert, dass man zu ihm sprach, dass man mit ihm sprach, dass man ihm Zeit opferte.
    »Wir müssen uns weigern, an dieser Farce teilzunehmen«, sagte sie und unterstrich ihre Worte mit den Händen, Bewegungen, die Paolo fast in Trance versetzten. »Wir müssen alles
verweigern, was sie von uns verlangen, uns weigern, fernzusehen, uns weigern, als Statisten an einer Farce teilzunehmen, die sie Demokratie und freie Wahlen nennen, wir müssen uns überhaupt weigern, uns an den Parteien des Kapitals und an den Gewerkschaften zu beteiligen. Wir müssen alles verweigern, was die Unterdrückung des Menschen und der Arbeiterklasse legitimiert. Das ist wahre Autonomie.«
    So hatte Paolo noch nie gedacht. Dass man nein sagen könnte, nur ein einfaches Nein. Gerade jetzt stellte das eine enorme Verlockung dar.
    »Was für ein Glück, dass ich keinen Fernseher besitze«, sagte er in einem Versuch zu scherzen.
    Sie verzog leicht den Mund. Paolo wusste nicht, ob das seinetwegen oder wegen des Scherzes war und beeilte sich, wieder ernst zu werden.
    »Mein Vater«, sagte er, »widmete all seine Zeit dem CGIL und der PCI, aber das alles existiert nicht mehr. Die Gewerkschaft hatte keine Chance, als die Kapitalisten die Ziegelei schließen wollten, in der er arbeitete. Und die Partei, das weißt du ja selbst.«
    »Dann weiß er auch, worum es geht«, sagte Francesca.
    »Er ist tot«, sagte Paolo. »Staublunge.«
    Sie nickte. Paolo fand, dass sie eine Verbindung hergestellt hatten.
    »Ganz entkommen wir nicht«, sagte sie. »Wir brauchen Essen, Kleider und ein Dach über dem Kopf. Aber wir müssen neue Strukturen außerhalb der alten schaffen. Ich habe nicht vor, darauf zu warten, bis der Sozialismus durchgeführt ist. Ich will ihn jetzt leben. Und unser Beispiel kann allen anderen, die versklavt sind, den Weg weisen.«
    Paolo wagte es nicht, Francesca nach ihrem Hintergrund zu fragen. Vielleicht war sie ja die Tochter eines Unternehmers
oder eines hohen Tieres in der Politik. Das würde ihm, dem Sohn eines umgekommenen Ziegeleiarbeiters, gewisse Vorteile verschaffen. Aber nur im Moment, und im Moment wollte er sie nicht in eine Situation versetzen, die ihr vielleicht peinlich war.
    Als die Buchhandlung schloss und es an der Zeit war,
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