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Der Geheimnistraeger

Der Geheimnistraeger

Titel: Der Geheimnistraeger
Autoren: Thomas Kanger
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sich zu trennen, fühlte er sich verunsichert. Sie wirkte distanzierter und ihre Stimme hatte einen formellen Ton angenommen. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Sie standen in der Gasse, und es war klar, dass sie beide in entgegengesetzter Richtung wohnten.
    »Morgen senden wir freies Radio«, sagte sie. »Ich habe jeden Samstag um zwei eine Sendung. Du kannst ja kommen und zuhören.«
    »Ja klar«, sagte er begeistert. »Gerne. Wohin genau?«
    Sie gab ihm die Adresse, und sie trennten sich mit einem Ciao.

5. Kapitel
    Paolo war überpünktlich an der angegebenen Adresse eingetroffen und stand nun vor dem Haus, einem vierstöckigen Gebäude in der Via Mirasole, einer schmalen, kurzen Straße am südlichen Ende der Innenstadt. Die Fenster im Erdgeschoss waren mit Spanplatten vernagelt. Die eine Hälfte der Flügeltür stand offen, und er trat ein. Im Entree lagen Müll und Glasscherben. Es roch nach Urin, Feuchtigkeit und Schimmel. Das Treppengeländer fehlte an manchen Stellen. Paolo drückte sich an die Wand, als er nach oben ging. Die ersten beiden Stockwerke schienen leer zu stehen. Im dritten Stock schien sich der Charakter des Hauses zu verändern, es lebte auf. Irgendwoher erklang aus einem Radio Punkmusik. Stimmen waren zu hören, und im Inneren des Hauses klapperte etwas rhythmisch. Er folgte dem Lärm und ging einen Korridor entlang. In einem Zimmer stand ein Mann, der etwa Mitte zwanzig war, und drehte an der Kurbel eines Vervielfältigungsapparats. Neben ihm stand eine jüngere Frau und rauchte. Sie war stark geschminkt, ihre Augen und Lippen waren schwarz umrandet. In der Ohrmuschel trug sie kleine, funkelnde Nieten. Auf dem Fußboden standen Kartons mit bereits vervielfältigten Flugblättern. Paolo übertönte den Lärm des Vervielfältigungsapparats und rief fragend: »Francesca?«
Der Mann deutete an die Decke zum darüberliegenden Stockwerk.
    Er ging eine weitere Treppe hinauf und fand sie in einem der innen gelegenen Zimmer auf einem durchgesessenen Sofa vor einem Tisch mit einer Schreibmaschine. Sie schaute zu ihm hoch und lächelte. Das war mehr, als Paolo sich erhofft hatte.
    »Hör dir das an«, sagte sie und zog das Papier aus der Walze. »Die sogenannten freien Intellektuellen von heute sind nichts anderes als die Subunternehmer, die das Kapital mit immateriellen Produkten versorgen. Ihre Arbeitsbedingungen unterscheiden sich von denen der Arbeiterklasse in ihrer Form, aber nicht in ihrem Inhalt. Tatsache ist, dass sie in der Regel noch schlechter bezahlt werden. Man sehe sich nur die Schriftsteller, Künstler und freien Journalisten an. In gewissem Umfang können sie ihre eigenen Arbeitsverhältnisse verglichen mit den entlohnten Angestellten besser selbst bestimmen, aber das um den Preis eines höheren Ausbeutungsgrades. Die Freiheit ist somit eine erkaufte Illusion.«
    Sie sah von dem Blatt auf und ihm in die Augen. »Gut«, sagte er. »Liest du das im Radio vor?«
    »Ich habe eine Diskussionssendung im Radio Autonomia Bologna«, sagte sie. »Ein Typ kommt her, und wir reden über die Rolle der freien Intellektuellen. Das hier ist nur die Einleitung. «
    Er sah sich um. »Besetzt?«, fragte er.
    »Ich zeige dir alles«, sagte sie, trat auf ihn zu und nahm seinen Arm. Die Berührung ließ ihn erschaudern, er bekam ganz weiche Knie. Ohne den geringsten Widerstand ließ er sich mitziehen. Sie ging ins Nachbarzimmer. Auf einem Tisch stand ein technisches Gerät mit Reglern und Messinstrumenten. Davor befand sich ein Mikrofon mit Stativ. »Von hier senden wir. Wir erreichen die ganze Stadt.«

    Sie gingen in die andere Richtung, durch das Treppenhaus und gelangten zu Räumlichkeiten, die wohl einmal eine Wohnung mit drei Zimmern und Küche gewesen waren. In einem der Zimmer standen zwei ungemachte Betten. »Hier wohnen Giorgio und Magda. Die beiden haben auch vorgeschlagen, dass wir dieses Haus befreien sollten.«
    Paolo drängten sich eine Menge Fragen auf. Wer waren wir, und wohnte Francesca etwa auch hier?
    »Ich wohne nicht in diesem Haus«, sagte Francesca, als hätte sie Paolos Gedanken gelesen. »Ich würde gerne, aber ich kann nicht«, fügte sie hinzu. Paolo wartete, aber eine weitere Erklärung blieb aus.
    Sie ging vor ihm in die Küche, die erstaunlich sauber war. »Ich muss vor der Sendung noch etwas essen«, sagte sie. »Es reicht auch für dich.« Sie fing an, Zucchini, Tomaten und Zwiebeln klein zu schneiden. Das Gemüse briet sie in einer Pfanne in Olivenöl an und
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