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Der Geheimnistraeger

Der Geheimnistraeger

Titel: Der Geheimnistraeger
Autoren: Thomas Kanger
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machen«, sagte Francesca und zog einen Stuhl hinter dem Tresen hervor. Paolo wusste nicht recht, ob er sich an einen der Tische setzen oder stehen bleiben und darauf warten sollte, dass sie mit ihrer Sache, was immer das sein mochte, fertig wurde. Er trat auf eines der Regale zu, um sich zu beschäftigen. Bücher von Marx und Engels mit Titeln, die er vom Regal seines Vaters wiedererkannte. Er wusste nicht, ob sein Vater diese Bücher je geöffnet hatte, jedenfalls hatte Paolo ihn nie Marx oder Engels lesen sehen. Aber Gramsci hatte sein Vater immer wieder gelesen.
    Paolo erkannte auch mehrere andere Autorennamen wieder: Negri, Hardt und Steve Wright. Von diesen Autoren war an der Uni die Rede gewesen. Insbesondere Negri hatte er mit ein paar Leuten diskutiert, die zur autonomen Bewegung gehörten und die am selben Seminar über Kapitalisierungstheorie teilgenommen hatten. Sie hatten sein Interesse geweckt, aber er war noch nicht dazugekommen, die Bücher auch wirklich zu lesen. Im Regal stand auch ein Buch mit dem Titel »Fordismus und Postfordismus«, das er gelesen hatte. Dieses Buch hatte ihn auch dazu bewegt, die Vorlesung über Taylorismus zu besuchen.
    Unter den Zeitschriften war das englische »Class War«. Er drehte sich um und sah Francesca an. Sie war mit irgendeiner Buchhaltungsarbeit beschäftigt und schien seine Anwesenheit vollkommen vergessen zu haben. Er konnte sie sich an vorderster Front des Klassenkampfes nicht vorstellen. Sie erinnerte in nichts an jene Leute, denen er bei den Lokalversammlungen der alten kommunistischen Partei PCI begegnet war. Dorthin
hatte sein Vater ihn manchmal mitgenommen. Paolo hatte in einer Ecke gesessen und den Diskussionen gelauscht, ohne sonderlich viel zu verstehen, und sich die Zeit mit Nichtstun vertrieben. Die Männer hatten geredet. Natürlich waren auch Frauen dort gewesen, aber nicht solche wie Francesca. Sie hatten mehr an seine Mutter erinnert. Vorzeitig gealtert, übergewichtig und dunkle Schweißflecken in den Achselhöhlen ihrer Kleider. Die Frauen hatten dann immerhin noch einen Ausweg gefunden, als das Kartenhaus der Politik wie bei einem plötzlichen Erdbeben eingestürzt war: nach Hause zur Familie in die eigenen vier Wände und zurück zu Institutionen, an denen erst einmal nicht zu rütteln war. Die Frauen hatten sich den innersten Kern ihres Lebens unbeschadet bewahren können. Sie hatten sich ohnehin immer geweigert, anzuerkennen, dass alles Politik war, und konnten nahezu unversehrt vom großen Leben in ihr kleines zurückkehren. Sie hatten bloß an einem missglückten Ausflug teilgenommen. Für die Männer blieb nur Bitterkeit, Alkohol und Fußball.
    Darüber wusste Francesca vermutlich nichts. Aber er wollte sich hüten, in Bezug auf sie übereilte Schlüsse zu ziehen. Er hoffte stattdessen, dieses Wissen direkt aus der Quelle beziehen zu können. Nachdem er sich ein paar Bücher angesehen hatte, setzte er sich an einen der leeren Tische und wartete. Einige Minuten später schlug sie ihr Notizbuch zu und kam an seinen Tisch. Er war etwas nervös, denn er wusste nicht, wie er die Unterhaltung beginnen sollte.
    »Ich arbeite hier einen Abend in der Woche«, sagte sie und befreite Paolo damit aus der Verlegenheit, ein geeignetes Gesprächsthema zu finden. »Unentgeltlich, versteht sich«, fügte sie noch hinzu.
    »Wem gehört die Buchhandlung?«, fragte Paolo.
    »Eigentlich niemandem«, antwortete Francesca. »Sie gehört
dem Netzwerk, niemand hat also mehr Recht auf sie als jemand anderes. Aber es gibt natürlich jemanden, der den Mietvertrag für die Räume unterschrieben hat.«
    Die Antwort machte Paolo nicht viel schlauer, aber er verzichtete darauf, um eine genauere Erklärung zu bitten.
    »Warum interessierst du dich so für den Taylorismus?«, fragte sie.
    Paolo dachte nach, es ging darum, clever zu klingen. Er glaubte nicht, dass Francesca ihn mögen würde, falls er ihr wie ein Dummkopf vorkam, insbesondere nicht, da er schon einen so unbeholfenen ersten Eindruck gemacht hatte. Das konnte fatale Konsequenzen haben.
    »Ich will wissen, wie die Industrieproduktion früher organisiert war, um zu verstehen, was die Entwicklung heute vorwärtstreibt«, sagte er und hoffte, dass seine platte Antwort trotzdem ankommen würde.
    »Die Kapitalbesitzer wollen nur zwei Dinge«, meinte Francesca, »sie wollen so effektiv und billig wie möglich produzieren und so viel und so teuer wie möglich verkaufen. Billig zu produzieren bedeutet niedrige Löhne,
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