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Der Geheimnistraeger

Der Geheimnistraeger

Titel: Der Geheimnistraeger
Autoren: Thomas Kanger
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Samstag, der 2. August, ein Tag, den Paolo nie vergessen würde. Auf dem Bahnhof von Bologna hatte eine Bombe die Menschen in Stücke gerissen.

2. Kapitel
    Sie saß fünf Reihen hinter ihm. Paolo hatte sie schon auf der Via Zamboni in ein Gespräch mit einer Freundin vertieft gesehen. Was seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, war die Art und Weise gewesen, wie sie mit ihren Händen gesprochen hatte. Sie bewegten sich weich wie Ähren, die im Wind hin und her wogten. Als er an ihr vorbeiging, lächelte er, nicht gekünstelt, sondern von innen heraus, aus Freude, die sie in ihm auslöste. Aber sie hatte ihm nur einen Blick zugeworfen, der kaum länger als ein Blinzeln gedauert hatte. Er war stehen geblieben und ihr mit Blicken gefolgt. Da hatte ihn ein überwältigendes Begehren nach ihrem dünnen Körper ergriffen.
    Jetzt saß er in der Aula Magna in der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und hörte sich dieselbe Vorlesung an wie sie. Ihm war klar, dass er sich nicht allzu oft nach ihr umdrehen durfte. Er raffte also seine Bücher und Papiere zusammen und stand auf. Er trat auf den Mittelgang und sah sich nach einem freien Platz schräg hinter ihr um. Sie schien sein Manöver nicht bemerkt zu haben. Er fand einen freien Platz links zwei Reihen oberhalb von ihr. Jetzt konnte er sie betrachten, ohne dass sie etwas merkte.
    Ihr dunkles Haar fiel ihr in Locken auf die Schultern. Sie trug einen einfachen Wollpullover und weite Hosen, die jegliche
Formen verschleierten. Er wollte nichts lieber, als all das zu erforschen, was er nicht sehen konnte. Er würde an einem Punkt der Haut beginnen, egal welchem, und sich dann vortasten, bis er diese ganze unbekannte Landschaft zu seiner gemacht hatte.
    Unten am Pult ließ sich il professore über die tayloristische Arbeitsverteilung aus. Paolo machte sich ein paar pflichtschuldige Notizen. Das Thema der Vorlesung hatte ihn interessiert, aber der Unterricht langweilte ihn. Trockene Fakten, die er sich genausogut hätte anlesen können. Er wünschte sich Geschichten, lebendige Schilderungen, die die Geschichte mit der Gegenwart verbanden. Er wollte verstehen, und er wollte wissen, welche Schlüsse sich ziehen ließen. Eine Vorlesung war allerdings kaum ein Forum für die Diskussion unterschiedlicher Ansichten. Hier saßen Hunderte Studenten, sie waren einfach nur die Adressaten der Ausbildung und nahmen nicht gestaltend an ihr teil.
    Warum interessierte sie sich für den Taylorismus? Die Lehre, die die Industriearbeit in ihre Bestandteile zerlegte, die Menschen in anonyme Zahnräder in der Produktion verwandelte und den Gewinn der raubgierigen Kapitalistenklasse maximierte? Er versuchte nicht zu denken, dass sie dafür viel zu hübsch war. Als hätten Augen, die so hübsch waren wie Schmetterlinge, das mindeste mit der Sache zu tun. Unablässig linste er zu ihr hinüber. Taylorismus, danach kann man sie natürlich fragen, dachte er und merkte, wie eine Woge von Nervosität über ihn hinwegspülte. Wie sollte er sich nur überwinden, sie anzusprechen, mit ihr zu reden? Sie gehörte einer anderen Welt an, das sah er an ihrer Art sich zu bewegen. Ein so feingliedriges Mädchen hatte vermutlich nie den Ziegeleistaub aus den Kleidern ihres Vaters einatmen müssen, wenn dieser immer erschöpfter und schwermütiger am Spätnachmittag nach Hause
gekommen war. Der Staub, der das Haar seines Vaters verfilzt und den er mit immer größerer Mühe nach jedem Arbeitstag aus der Lunge gehustet hatte. Der graurote, zähe Schleim hatte seine Lieder zum Verstummen gebracht und schließlich wie ein alles erstickender Teppichboden die Innenseite seiner Lungen ausgekleidet.
    Die Ziegelei wurde geschlossen und sein Vater verlor seine Arbeit. Aber er hatte noch seine Familie und die Politik. Der Glaube an eine andere und bessere Zukunft ermöglichte es ihm in den letzten Jahren weiterzuatmen. Als die Partei zusammenbrach, hörte Paolos Vater zu atmen auf. Er wurde am 6. September 1991, dem Tag nach der formellen Auflösung der Sowjetunion, zu Grabe getragen. Er gehörte zu den Unbeirrbaren, die bis in den Tod Recht behielten.
    Gina war untröstlich. Dann verstummte sie ebenfalls und zog sich in ihre eigene Welt zurück, zu der sonst niemand Zutritt hatte. Drei Wochen nach der Beerdigung ging Paolos Mutter mit ihr zu einem Psychiater. Dieser stellte eine schwerverständliche Diagnose auf Latein und wies sie in eine Klinik ein. Jetzt war ein ganzes Jahr vergangen, und die Schwester war, mit
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