Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Geheimnistraeger

Der Geheimnistraeger

Titel: Der Geheimnistraeger
Autoren: Thomas Kanger
Vom Netzwerk:
starken Medikamenten eingestellt, wieder zur Mutter nach Pilastro gezogen. Sie verließ die Wohnung nur selten. Paolo besuchte Gina fast jeden Tag. In ihrer Kindheit hatte er sie noch halbwegs gegen äußere Gefahren verteidigen können, aber gegen die Mächte, die ihr Gemüt eingenommen hatten, fehlten ihm die Waffen.
     
    Er fragte sich, wie das Mädchen hieß. Dieser Gedanke beschäftigte ihn im Bus nach Hause in das einfache Zimmer, das er gemietet hatte. Es lag ebenfalls in Pilastro in einem der Betonhäuser, die man Anfang der 1960er Jahre hochgezogen hatte, als die Landarbeiter aus dem Süden wegen der Arbeitsplätze
in der Industrie in den Norden gezogen waren. Die Gebäude waren stumme Zeugen einer Epoche. Die Menschen waren buchstäblich mit den Wurzeln aus der Erde, in die sie gehörten, gerissen und in neue Quartiere verpflanzt worden, in denen sie keinen Kontakt mehr zur Erde hatten. Diese Bewegung war nicht nur in der Horizontalen erfolgt, sondern auch in der Vertikalen. Die Wohnung gefiel Paolo jedoch. Er hatte in seinem gesamten einundzwanzigjährigen Leben in solchen Häusern gewohnt, und sie waren ihm ebenso vertraut wie seine eigene Haut. Die Einrichtung bestand aus einem Bett, einem Schreibtisch mit Stuhl, einem verschlissenen Sessel und einem Regal für die Studienliteratur. Er besaß ein Radio, aber weder Plattenspieler noch Fernseher. Die Miete war gering.
    Seine Mutter hatte gewollt, dass er studieren würde. Sie hatte darauf bestanden, als er selbst widerwillig gewesen war. Du hast den Kopf dazu, hatte sie gesagt, wirf dein Leben nicht weg. Hier liegt deine Zukunft. Er hatte sich ihrem Willen gebeugt, denn etwas anderes war undenkbar.
    Er legte sich aufs Bett und träumte, dass das Mädchen ohne Namen neben ihm lag. Seine Hand folgte einer Rundung in der Luft, ihr Haar, ihre Wange, ihre Schulter, ihr Arm, bis zur Taille. Sie schaute ihm in die Augen, und er war glücklich.

3. Kapitel
    Die folgenden drei Tage ging Paolo die Via Zamboni, die Hauptstraße im Universitätsviertel, auf und ab, in der Hoffnung, sie wiederzusehen. Er dachte sich aus, was er in verschiedenen Situationen sagen würde. Er ging diverse Varianten durch und verwarf eine nach der anderen. Vermutlich würde er alles, was er sich zurechtgelegt hatte, vergessen und verzweifelt über seine eigene Schüchternheit etwas Sinnloses stammeln. Weshalb konnte er nicht wie so viele andere aus seinem Bekanntenkreis selbstbewusst sein und immer einen frechen Spruch auf den Lippen haben? Er hoffte, dass seine linkische Art sie rühren und seine Schwäche seine Stärke werden würde. Vielleicht gefiel ihr ja sein Aussehen, er wusste, dass das bei Mädchen oft so war.
    Jetzt hatte er sich unter den Arkaden vor dem Caffè del Museo ganz in der Nähe der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften postiert. Sein Standort war das Resultat einer Wahrscheinlichkeitsrechnung. Obwohl er sie nie zuvor in der Vorlesung gesehen hatte, musste sie an dieser Fakultät immatrikuliert sein. Irgendwann im Laufe des Tages würde sie sicher einen Kaffee oder Tee trinken wollen. Aber vielleicht hatte sie sich ja auch nur den Vortrag über Taylorismus anhören wollen? Vielleicht hatte sie das Thema interessiert, und sie hatte sich, von
einer Freundin dorthin mitgenommen, in die Vorlesung gesetzt? Den Gedanken, dass es genausogut ein Freund gewesen sein konnte, schob er von sich.
    Einige Male während der letzten drei Tage hatte er gemeint, sie aus der Ferne zu sehen. Er hatte sich rasch genähert, dann aber jedes Mal feststellen müssen, dass er sich geirrt hatte. Einmal war er sich ganz sicher gewesen, dass sie es war, aber es hatte so ein Gedränge geherrscht, dass er sie aus den Augen verloren hatte. Enttäuscht, aber auch erleichtert, dass er jetzt noch nicht auf die Probe gestellt werden würde, hatte er seine Suche fortgesetzt. Sein Leben war von ihren unbekannten Schritten bestimmt worden.
    An diesem Tag hatte Paolo gerade aufgeben wollen, als sie, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt, an ihm vorbeiging, offenbar vollkommen unberührt von den Gefühlsstürmen in seinem Herzen. Sie war allein und kam aus dem Café. Das brachte ihn aus der Fassung. Sein Plan war gewesen, sich zu ihr zu setzen und zu bemerken, dass sie dieselbe Vorlesung besuchten. Sie hätte es nett gefunden, dass er ihr Gesellschaft leistete. Es wäre nur natürlich gewesen, sie nach ihrem Namen zu fragen, und sie hätten den Taylorismus diskutieren und über die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher