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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief
Autoren: M Ernestam
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hast, plappere ich durch meine bloße Existenz aus. Wenn du deine Geheimnisse mit dir fortnimmst, dann ist es besser, wenn ich mich fernhalte. «
    »Ist das ein Vorwurf?«
    »Ein wenig vielleicht.«
    Sie lächelt, als sie das sagt, und ich werde wütend, so krank ich auch bin.
    »Und was ist mir dir? Warst du denn etwa besser? Du hast doch auch nichts gesagt …«
    »Ich wusste, dass du das sagen würdest. Ich bin nicht dumm, Rakel, und dass du das ebenso wenig bist, weiß ich seit unserer ersten Begegnung. Deshalb habe ich meinem Sohn Stig gesagt,
wer sein Vater ist. Ich habe es getan, als Ruben tot war und in seinem Himmel über das Elend lachen konnte. Als Carl Otto sich mit unseren Schäferstündchen auf dem Sofa in der Fabrik brüstete, hat Ruben ihm niemals geglaubt.«
    Ich kann Leas Miene nur mit Mühe deuten. Sie sieht mich an und zieht einen Lavendelzweig aus dem mitgebrachten Strauß. zerbröselt einige Blätter und hält sie mir unter die Nase, ehe sie sie auf der Bettdecke verstreut.
    »Es war nicht leicht. Dass Mama erzählt, dass der Opa eigentlich der Vater ist, auch wenn der Junge diesen Opa niemals kennengelernt hat. Ich war auf Verachtung gefasst, und die bekam ich auch. Stig ahnte wohl nur, was es mit Rubens Verhältnissen auf sich hatte, aber natürlich wurde etwas Unverständliches plötzlich begreiflich. Vielleicht hast du recht, vielleicht hätte ich früher etwas sagen sollen. Oder gar nicht. Aber ich hatte kein Vertrauen zu Carl Otto, musst du wissen. Er hatte immer noch ein As im Ärmel. Es spielte keine Rolle, wie weit weg er war. Auf irgendeine Idee kam er immer, und es wäre schlimmer gewesen, wenn ich am Ende nicht ehrlich gewesen wäre.«
    »Hättest du nicht sagen können, dass es ein anderer war?«
    Die Worte drehen sich in der Luft und vermischen sich mit dem Lavendelduft. Leas Stimme ist fest.
    »Warum hätte ich das sagen sollen, wo es doch nicht so war?«
    »Um deinen Sohn zu schonen.«
    »Du vergisst Carl Ottos As.«
    Lea seufzt und schaut sich im Zimmer um. Sie stellt fest, dass draußen ein erbärmlicher Haufen von Menschen herumliegt und dass das Pflegepersonal herumläuft und ziemlich sinnlos versucht, alles zu lindern. Sie erkennt die Szenen aus dem Armenhaus wieder. Eine Salbe hier und ein Stückchen Speck da würden sicher Wunder wirken. Dann holt sie den Kamm und
kämpft sich durch meine Haare, die sich im Nacken zu feuchten Nestern verschlungen haben. Wieder und wieder bewegt sie ihren Arm, und ich spüre in ihren Bewegungen Mutters Anwesenheit. Mein Engel ist aus dem Bild gestiegen und sitzt auf meiner Bettkante, um mich schön zu machen.
    »Dass du dann auch schwanger geworden bist. Und dabei hattest du mich doch gewarnt.«
    »Ich war ganz schön dumm.«
    »Aber du hast einen feinen Jungen bekommen.«
    »Du auch.«
    »Aber er ist ein Frauenheld.«
    »Kein Wunder.«
    »Du hast mich nie gefragt.«
    »Wonach denn?«
    »Nach Antons letzten Stunden. Als du eingeschlafen warst und ich bei ihm saß.«
    Was hätte es da zu fragen gegeben? Vielleicht, warum ich eingeschlafen war? Vielleicht, was passiert, wenn das Leben ein Ende nimmt und die Trostlosigkeit beschließt, bis in alle Ewigkeit neben dir zu wandern?
    »Er hat nicht viel gesagt, Rakel. Er war bewusstlos. Aber unmittelbar vor seinem Tod kam er zu sich und fragte nach dir. Er zog mich an sich und bat mich, dir zu sagen, dass er dich mit seinem ganzen Körper liebte, der jetzt nichts mehr wert war.«
    Alles, was ich geahnt habe, wird plötzlich zur Gewissheit. Aber es macht mir nichts mehr aus. Ich sinke tiefer zwischen meine Kissen und spüre, wie mir jemand die Augen schließt und das Atmen für mich übernimmt. Der Schlaf ist auf dem Weg, als ich aus der Ferne die Worte höre, die ich in die Ewigkeit mitnehmen werde.
    »Ich glaube, dass ich an seinem Tod schuld bin, Rakel. Wir hätten den Arzt holen müssen. Aber als mein Muttermal verblasste,
war das wie ein Wunder, und ich wusste, dass alles einen Sinn hat. Deine Schuld ist nichts im Vergleich zu meiner. Und doch muss man vergessen und weitergehen. Das hast du gedacht, und das denke ich, und deshalb sind wir hier und lieben einander.«
    Du hast ihn nicht umgebracht.
    Eine Stimme zu haben, die widerspricht. Protestieren zu können, ein Wille zu sein und nicht nur ein Leib.
    »Aber natürlich hätten wir den Arzt holen müssen. Ich war so überzeugt, aber wie hätte ich es wissen können. Ich glaubte, dich beschützen zu müssen. Glaubte, dass er dich unglücklich
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