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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief
Autoren: M Ernestam
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er jetzt liegt. Und Marstrand.«
    Brigitte streckte die Hand aus und legte sie auf Ingas. Jetzt sah sie es. Auf dem Mittelfinger steckte ein Ring von gelberem Gold als die anderen. Brigitte nickte zur Bestätigung. »Der Trauring meiner Großmutter. Ich trage ihn schon mein Leben lang und liebe ihn mehr als meine anderen Ringe, sogar als meine Trauringe. Vielleicht haben meine Ehen deshalb niemals lange gehalten.«
    Inga schaute ihre Hand und ihren eigenen Trauring an. Sie dachte an die Hand, die ihr Mårtens Ring gegeben und ihr kondoliert hatte. Draußen wurden jetzt die Laternen angezündet. Brigitte schien aufstehen zu wollen. Dann überlegte sie es sich anders und blieb sitzen.
    »Nein, du trägst keine Schuld. Und auch deine Verwandten nicht. Oder meine. Schuld tragen nur die Machthaber, die junge Männer für eine angeblich gute Sache in den Krieg schicken. Es gibt Fälle, in denen ein bewaffneter Kampf unvermeidlich ist. Aber nicht diese beiden schrecklichen, sinnlosen Weltkriege. «
    »Ich glaube, meine Großmutter hätte das auch so gesagt. Oder mein Mann Mårten.«
    »Noch einmal mein Beileid. Er war zu jung, um auf diese Weise weggerissen zu werden.«
    Brigittes Stimme war sanfter geworden, und die deutschen Kanten, die sie den englischen Wörtern verpasste, schwächten sich ab.
    »Meine Großmutter überlebte und konnte sich zum Glück durchschlagen. Wie so viele andere Frauen in ihrer Situation. Es gibt derart viele Kriegerwitwen und einsame, hinterlassene Mädchen. Aber viele von ihnen … besitzen eine unbezähmbare
Kraft. Das Leben findet seinen Weg. Ich will jetzt keine Predigten oder Ermahnungen von mir geben. Ich kann nicht wissen, wie dir zumute ist, aber ich habe verstanden, dass du mit deinem Mann sehr glücklich warst. Und ich bin absolut überzeugt davon, dass du es schaffen wirst. Und glaub mir, du wirst auch wieder glücklich werden. Auch du, Inga. Das ist übrigens ein schöner Name.«
    »Mein Name bedeutet eigentlich … niemand. Keine.«
    Sie kämpfte mit den Tränen, aber anders als sonst. Brigitte konnte vielleicht nicht nachempfinden, wie es in ihr aussah, aber sie hörte sich überzeugend an.
    »Du hast mir einen großen Dienst erwiesen. Ich bin sehr, sehr froh darüber, dass du hergekommen bist und einige Tage bleiben wirst. Es gibt noch mehr hier, die dich kennenlernen möchten, und wir beide haben sehr viel zu besprechen. Außerdem möchte ich dir Wiesbaden zeigen. Witzig, dass ich mich nur wenige Dutzend Kilometer von dem Ort entfernt niedergelassen habe, nach dem das Schiff meines Großvaters hieß, findest du nicht? Und natürlich gehen wir auch ins Fotografiemuseum. Ich glaube, das wird dich sehr interessieren. Aber jetzt musst du endlich etwas essen. Ich würde dich gern in ein Restaurant hier um die Ecke einladen. Zu einem hervorragenden Italiener. Einer der größten Aktivposten Deutschlands übrigens. Die Zuwanderer. Viele von ihnen arbeiten aber auch hart, um glücklich zu werden. Was allerdings eine ganz andere Geschichte ist.«

Kapitel 20
1959
    Bald ist es so weit. Das spüre ich. Nicht wegen der Schmerzen oder weil sie etwas gesagt hätten. Eher ist es so, als ob die Zeit den Atem anhielte. Es liegt eine Zurückhaltung in der Luft, die auch die Weißkittel zu spüren scheinen, wenn sie zu mir kommen, und ich fühle mich ein wenig besser. Es ist eine alte Wahrheit, dass das Leben sich am Ende widersetzt und wir uns deshalb gesund fühlen, obwohl die Krankheit längst gewonnen hat. Als ob der Tod das Leben noch zum Nachtisch einladen will, ehe die Rechnung bezahlt werden muss.
    Mir macht das keine Angst. Eher genieße ich diese Zeit relativer Sorglosigkeit, in der ich die Kraft habe, das Haus zu verlassen, ohne mich zu schwer auf den Stock stützen zu müssen. Ich habe einen Abstecher in den Aufenthaltsraum gemacht. Aber da saßen einige verbitterte Hinterbliebene und ruinierten die Stimmung, und das war das Letzte, was ich brauchen kann. Eine ewig grantige Alte bekam zum ersten Mal seit Wochen Besuch von ihrer Schwiegertochter. Als sie hörte, dass diese im Moment so viel zu tun hätte, lachte sie und sagte: »Das macht dich traurig. Das höre ich ja gern.«
    Arme Wesen. Alle beide. Im Vergleich dazu kam ich mir reich vor.
    Ich merke es auch, wenn sie zu Besuch kommen. Die Schritte hallen schneller durch den Gang, und meine Söhne sehen erleichtert
aus, wenn sie sehen, dass ich noch lebe. Sie kommen jetzt häufiger. Gestern schaute Ivar herein, und ich dachte, er kann
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