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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief
Autoren: M Ernestam
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zwar nicht allen helfen, aber alle bezaubern. Es ist unmöglich, meinem großen Jungen zu widerstehen, ebenso wenig, wie seinerzeit seinem Vater. Sicher hat er sich Gedanken gemacht, und einiges muss er verstanden haben. Aber er hat nichts gesagt, und seine Liebe zu Jakob ist so groß, dass ich sie nicht gefährden wollte. Möglicherweise hat er beschlossen, nicht daran zu denken, und vielleicht war das das Beste so.
    Schuld? Sollte ich mich schuldig fühlen? Unser Ziel war richtig, vielleicht kann das das Urteil des höchsten Gerichts mildern. Wenn ich ihm von Anton erzählt hätte, hätte ich so viel mehr sagen müssen, und es gibt Grenzen dafür, was man seinen Kindern auferlegen darf. Die Erinnerungen sind verbrannt und außer Reichweite. Die Zeit nimmt ja auch nicht einfach ein Ende, weil ich sie verlasse. Es wird Zeit für die Wahrheit, wenn alle empfänglicher sind. Und wenn genug Zeit zwischen dem Geschehenen und dem Erzählten vergangen ist.
    Ivar war kaum gegangen, als auch schon Johannes erschien. Er hatte Louise bei sich, die strahlt wie der schönste Apfel. Ihr Bauch wölbte sich unter dem Kleid, und sie sah so glücklich aus, dass ich aus alter Erwartung innerlich zusammenzuckte. Ich musste gar nicht fragen, denn nach einer Weile legte sie meine Hand auf ihren Bauch, und ich konnte spüren, wie es darin strampelte, und dann war klar, dass es nicht mehr lange dauern würde. Als ich nach dem Namen fragte, schüttelten sie den Kopf. Vielleicht Anders oder Lars bei einem Jungen, vielleicht Maria oder Åsa bei einem Mädchen, aber es kam ihnen zu früh vor, und was ich denn meinte? Nichts, antwortete ich, und das schienen sie fast als Mitteilung aufzufassen.
    Mein kleiner Junge. Ich schüttelte den Kopf und glaubte zu sehen, wie er in meinem Krankenhaussessel saß und durch ein
ähnliches Fenster schaute. Traurige Gedanken und eine bedrohliche Finsternis tauchten auf, aber ich konnte sie verdrängen. Trotzdem ahne ich die Unruhe in seinen Augen, denke an Louise und ihr Lachen und hoffe von Herzen, dass er es nicht erstickt oder wegschiebt. Ich denke an das Mädchen, das zur Welt kommt. Sie wird vielleicht mehr ertragen müssen, als sie kann, aber ich werde versuchen, ihr zu helfen. Ich bin vorausgegangen und habe den Weg bereitet, möge mir vergeben werden, wenn ich zu große Lasten hinterlasse. Andererseits, die himmlische Vorsehung ist unzuverlässig. Das werde ich Lea sagen, wenn sie mich besucht, und sie wird mir widersprechen. Und dann werde ich wieder lachen.
    Ehe sie gingen, legte ich das Ohr auf Louises Bauch und murmelte sie vor mich hin, diese Ermahnung, die wie ein Bekenntnis klang. An eines sollst du dich erinnern. Schau nach vorn und nimm deinen Weg. Wie die Menschen das zu allen Zeiten getan haben.
    Sie verschwanden aus meinem Zimmer, und ich wusste, dass es das letzte Mal gewesen war. Welch ein Glück, dass sie wissen, was ich will. Alles ist entschieden, Essen und Lieder, Lokal und Pastor. Es soll und muss ein wunderbares Fest werden. Es ist nur schade, dass ich nicht dabei sein und mich über die Reden freuen kann. Eitles Stück, wird Lea sagen, wenn sie hereinkommt und ehe ich ihr das Versprechen abnehme, mir eine Grabrede zu halten, die sich gewaschen hat.
    Und da steht sie plötzlich mitten in meinem Zimmer. So alt wie ich, einundsechzig Jahre, aber ihre Haare sind noch immer ohne graue Strähnen und ihr Körper weiterhin fest. Unter dem Mantel trägt sie ein Kleid mit einem roten Gürtel, dazu hochhackige Lackstiefel. Ich weiß, dass Carl Otto sich im Grab umdrehen würde, wenn er diese Stiefel sehen müsste, doch dann würde er sich an ihren Brüsten verlieren und ihr verzeihen.

    Sie setzt sich auf die Bettkante und nimmt meine Hand.
    »Weißt du, dass ich dir böse bin?«, fragt sie.
    »Was kann ich dir denn getan haben? Ich liege doch hier nur unnütz herum?«
    »Das ist es ja gerade. Wie soll ich denn ohne dich zurechtkommen? «
    »Das könnte ich dich auch fragen.«
    Lea reißt sich ungeduldig die Uniformmütze vom Kopf und tippt mir mit dem Zeigefinger auf die Brust.
    »Du musst mich in Empfang nehmen, wenn ich nachkomme. «
    »Und du musst dich um meine Hinterbliebenen kümmern.«
    Lea schüttelt den Kopf.
    »Lieber nicht. Geliebte Rakel, ich bin in jeder Hinsicht ein Zeugnis für das, was geschehen ist. Während du niemals etwas erzählt hast.«
    »Wie meinst du das?«
    »Dass du Ivar nichts gesagt hast.«
    »Was hat das mit …«
    »Ich weiß, Rakel. Das, was du nicht gesagt
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