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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor
Autoren: Robert Littell
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schnuppert die Kälte; sie brennt ihm in den Nasenlöchern. Der Schmerz erinnert ihn, was er ist und wo er sich befindet. Die Mitglieder des Empfangskomitees starren ihn an, als erwarteten sie eine Zugabe. In Lemuels blutunterlaufenen Augen glimmt Panik auf. Seine Augenbrauen zucken hoch, und seine Nüstern weiten sich, während er von seinem zurechtgelegten Text abweicht, den er sich in den endlosen Stunden des Flugs von Petersburg über Shannon nach New York immer wieder eingeprägt hat. Er sei von der Reise völlig erschöpft, sagt er. Außerdem müsse er dringend seine Blase entleeren. Ob es eine Zumutung an ihre Gastfreundschaft sei, fragt er, sie um eine Tasse echten amerikanischen Kaffee zu bitten.
    Charlie Atwater, der seit ein paar Minuten immer wieder die Luft anhält, um seinen Schluckauf zu bekämpfen, sagt: »Wie war’s mit etwasch, wo ein klitzekleines bischen mehr Alkohol drin ist?«
    Mit der gemurmelten Bemerkung »Falk braucht unbedingt eine Mütze oder einen Haarschnitt« wirbelt der Fuchs auf dem hohen Absatz einer Galosche herum und steuert auf den Kaffeeautomaten in der Bahnhofshalle zu. Der Direktor fordert Lemuel mit einer Kopfbewegung auf, ihr zu folgen.
    Und er folgt ihr. Mit pflichtschuldiger Dankbarkeit läßt sich Lemuel von den Menschen in die Mitte nehmen, die sich erbieten, ihn vor einem Schicksal zu erretten, das schlimmer wäre als der Tod: dem Chaos!
    Das letzte, was er erwartet hätte, als er ein Ausreisevisum beantragte, war, eines zu bekommen; das letzte, was er sich wünschte, war, Rußland zu verlassen. Es war eine leidige Tatsache, daß die ehemalige Sowjetunion zusehends in den Strudel des Chaos gezogen wurde; die Regale in den Geschäften waren leer, die Menschen waren dazu übergegangen, Katzen und Tauben in Fallen zu fangen und getrocknete Karottenschalen aufzubrühen, weil Tee unerschwinglich geworden war. Die jährliche Inflation erreichte eine dreistellige Prozentzahl, und die Exkommunisten, die in Moskau angeblich regierten, warfen das Geld unters Volk, so schnell sie es drucken konnten. Lemuels Gehalt am W.-A.-Steklow-Institut für Mathematik, wo er seit dreiundzwanzig Jahren arbeitete, hatte sich in den letzten vier Monaten verdreifacht. Der Preis für einen Laib Brot, wenn es überhaupt welches gab, hatte sich vervierfacht. Nicht lange, und er würde einen Fünfzigliter-Müllsack brauchen (den es freilich nirgends zu kaufen gab), um seiner Exfrau ihre monatliche Unterhaltszahlung zu bringen.
    Dennoch, das Chaos hatte den Vorteil gehabt, daß es Lemuels Chaos war. Der englische Stückeschreiber Shakespeare hatte es einmal auf den Punkt gebracht: Besser das Chaos ertragen, das wir kennen, als uns kopfüber in ein anderes Chaos zu stürzen, das wir nicht kennen. Oder so ähnlich.
    Aber wenn dem so war, was bewog dann einen zutiefst vorsichtigen Menschen wie Lemuel (er hat immer den Standpunkt vertreten, daß zwei plus zwei vier zu sein scheine), zu angeblich wärmeren Gefilden und angeblich grüneren Weidegründen aufzubrechen?
    Lemuel hatte jedes Jahr ein Ausreisevisum beantragt, seit er als Zufallsforscher arbeitete. Das war seine Art, Stichproben vom politischen Klima zu nehmen. Jeden September füllte er getreulich die vorgeschriebenen Formulare in dreifacher Ausfertigung aus, klebte die erforderliche Steuermarke darauf und warf den Antrag in das überquellende Eingangskörbchen des zuständigen Parteigenossen in der Visa-Abteilung des Außenministeriums. Jedes Jahr kam der Antrag mit dem großen roten Stempelaufdruck ABGELEHNT zurück, womit für Lemuel wieder einmal bewiesen war, daß immerhin die Welt, die er kannte, aber nicht unbedingt liebte, noch in Ordnung war. Denn Lemuel, so schien es, besaß praktische Kenntnisse von Staatsgeheimnissen. Aus diesem Grund wurden ihm Ausflüge über die Landesgrenzen hinaus verwehrt.
    Als dann wunderbarerweise ein Visum mit Siegel und Unterschrift im Gemeinschaftsbriefkasten lag, erschrak er zutiefst. Er setzte sich die Brille auf und las es zweimal, nahm die Brille ab und putzte sie mit dem Zipfel seiner Krawatte, setzte sie wieder auf und las das Ding noch ein drittes Mal. Wenn diese Leute Lemuel Melorowitsch Falk – Träger des Lenin-Preises für seine Arbeiten auf dem Gebiet der reinen Zufälligkeit und des theoretischen Chaos, Mitglied der elitären Akademie der Wissenschaften – durch die normalerweise klebrigen Finger gleiten ließen, Staatsgeheimnisse hin, Staatsgeheimnisse her, bedeutete dies, daß der
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