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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor
Autoren: Robert Littell
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klingender Stimme, »haben Sie wahrscheinlich noch nicht von mir gehört – keine Bange, ich bin nicht im geringsten gekränkt –, aber vielleicht haben Sie schon mal von Brooklyn gehört?« Im Weiterplappern inspiziert er sein Taschentuch auf ein Bulletin über seinen Gesundheitszustand. »Wenn Sie mit dem Rücken zum Atlantik stehen oder auch sitzen, liegt Brooklyn gleich rechts von Manhattan.«
    Über seinen kleinen Scherz lachend, steckt der Rebbe das Taschentuch ein, bückt sich nach Lemuels Koffer, hebt ihn mühelos hoch, als seien nur Federn drin, und geht voraus, die Treppe hinauf. »Bevor ich ein Rebbe und ein Gottesmann wurde, habe ich als Schauermann im Hafen von Brooklyn gearbeitet.« Er lockt Lemuel mit gekrümmtem Finger. »Kommen Sie. Ich führe ein koscheres Haus, ich fresse Sie nicht. Im ersten Stock liegen die Räume, die Ihnen das Institut zur Verfügung stellt.« Der Rebbe zeigt ein schüchternes, asymmetrisches Grinsen, das sein Gesicht in etwas verwandelt, was einer kubistischen Gitarre recht ähnlich sieht. »Wenn Sie sich etabliert und dechauffiert haben«, teilt er seinem mißtrauischen Besucher mit, »lade ich Sie zu Tee und Sympathie ein.«
    Lemuel schultert seinen Tornister und geht, die Plastiktüte aus dem Dutyfree-Shop in der Hand, folgsam hinter dem Rebbe her, vorbei an hüfthohen schiefen Büchertürmen, die mit den Rücken nach außen an den Wänden lehnen. »Tee nehme ich mit einem Stück Zucker zwischen den Zähnen«, sagt er düster. »Sympathie mit einem Körnchen Salz.«
    Rebbe Nachman dreht sich um und mustert neugierig seinen Hausgenossen. »Daß wir Freunde werden, liegt im Bereich des Möglichen«, verkündet er. »Vielleicht haben Sie schon etwas von Männerbünden gehört?«
    Lemuel bleibt wie angewurzelt stehen. Ihm fällt ein, daß seine Geliebte ihm vorgeworfen hat, er glaube, das Chaos der anderen werde schöner sein. Axinja hat auch recht gehabt, was die Sony-Walkmans angeht. Ob Sie Dinge weiß, die er selbst nur argwöhnt? »In Rußland«, merkt Lemuel mit einer Stimme an, die unerschütterliche Hetero-Sexualität ausdrücken soll, »verstößt so etwas eindeutig gegen das Gesetz.«
    »In Amerika«, erklärt Rebbe Nachman mit Inbrunst, »sind Männerbünde nichts weiter als eine respektable Art, die Frauen zu hassen.«
    Mit einer Lupe studiert der Rebbe das Kleingedruckte auf einer Seite der Zeitung, die er auf dem Küchentisch ausgebreitet hat. »Oj, IBM sind siebeneinviertel gefallen. Vielleicht hätte ich doch vor ein paar Monaten leerverkaufen sollen. General Dynamics sind viereinhalb gestiegen. Soll ich sie jetzt abstoßen oder doch lieber noch drinbleiben? Sagen Sie mir: Wie soll ich ohne einen satten Spekulationsgewinn jemals meine eigene Talmudschule kriegen?«
    Aus einem alten Motorola, das auf einem Stapel Bücher balanciert, kommt eine blecherne Wiedergabe von Ravels Konzert für die linke Hind. Seufzend wendet sich der Rebbe wieder den getrockneten braunen Knospen zu, die er zerbröselt und auf einem Blättchen Zigarettenpapier verteilt. Lemuel, der ihm von der anderen Seite des Tisches aus zuschaut, nimmt sich noch ein Stück Zucker aus der Zinndose, wickelt das Papier mit dem Aufdruck des Restaurants ab, in dem es geklaut wurde, und klemmt sich den Würfel zwischen die Schneidezähne. Während er Kräutertee durch den Zucker filtert, sieht er fasziniert zu, wie der Rebbe Papier und Tabak zu einem perfekten Zylinder rollt.
    Dem Rebbe fällt auf, daß es Lemuel aufgefallen ist. »Bevor ich Schauermann wurde, habe ich in einer Zigarillofabrik in New Jersey gearbeitet.« Er läßt die schwammige Spitze seiner rosa Zunge an der Kante des Papiers entlanggleiten und klebt die Zigarette zu. Er durchsucht seine Taschen und bringt ein Zündholzbriefchen zum Vorschein, das er ebenfalls in einem Restaurant hat mitgehen lassen. Er zündet ein Hölzchen an und hält es an den Joint. Als die Spitze schwelt, schüttelt er das Zündholz aus und macht vorsichtig den ersten Zug. Beim Ausatmen fragt er beiläufig: »Mit dem biblischen Namen Lemuel, der – korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre – soviel wie ›der Gottesfürchtige‹ bedeutet, sind Sie vielleicht Jude?«
    »Der Vater meines Vaters, der ein glühender Homo sovieticas war, nannte seinen Sohn Melor – für ›Marx, Engels, Lenin, Organisatoren der Revolutions Mein Vater, der ein glühender Homo antisovieticus war, behauptete, Lemuel steht für ›Lenin, Engels, Marx, unbefriedigtes exhibitionistisches
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