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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor
Autoren: Robert Littell
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auch auf jedes meiner Worte, Lemuel und Rain?« sprach der Rebbe weiter, er hatte für Unterbrechungen nicht viel übrig. »Man braucht nicht ein Or Hachaim Hakadosch vom Easter Parkway zu sein, um zu wissen, daß das Chaos sich nicht ungebeten eingeschlichen hat, sondern auch erschaffen wurde. So wie wir Jahwe kennen, können wir davon ausgehen, daß es in seiner Macht stand, Nacht und Tag und Gras und Bäume und Jahreszeiten und Sonne und Fische und Vögel und Eden und Adam zu erschaffen, ohne vorher das Chaos zu erschaffen. Also welches verschlüsselte Signal hat Jahwe durch die Äonen zwei Juden gesandt, die in den heiligen Stand der Ehe treten, als Er das Chaos erschuf, bevor er sich an die eigentliche Schöpfungsarbeit machte?«
    Auch wenn ich hundertsechs Jahre alt werde, und so alt war ich, als Rain mich mit ihrem Starterkabel in Gang brachte, werde ich nie vergessen, wie die talmudischen Augen des Rebbe in diesem Augenblick vor biblischer Erleuchtung schier bersten wollten. Zerstreut fuhr er sich mit dem Finger zwischen Kragen und Hals, als er seine Frage selbst beantwortete.
    »Wenn ihr eine unabhängige Meinung hören wollt: Er hat uns vielleicht gesagt, was jeder Künstler instinktiv weiß, nämlich daß es so etwas wie Schöpfung ohne Chaos nicht gibt.« Schwere Regentropfen prasselten auf uns herab, Shirley und Dwayne wechselten besorgte Blicke, und der Rebbe beeilte sich, zu seiner Pointe zu kommen. »Also, meine Lieben, wenn ihr das Glück habt, in eurem Leben als Paar einen Zipfel vom Chaos zu erwischen, lauft nicht vor ihm davon, sondern lauft ihm entgegen, umarmt es, nutzt es um Himmels willen.«
    Dwayne spürte, daß dem Rebbe die Worte ausgegangen waren. »Jetzt, Babe.«
    Er und Shirley zogen Plastiktüten aus ihren Taschen und fingen an, uns mit Vogelfutter zu bewerfen. Im nächsten Augenblick war der Glockenspielturm von Flügeln umschwirrt, als Schwärme von Tauben herabstießen, um die Körner von der Erde aufzupicken. Unten im Tal zerriß ein Blitzstrahl den Himmel, dicht gefolgt von langsam rollendem Donner. Der Regen machte jetzt Ernst.
    Ich zog mein Sportsakko aus und hielt es Rain über den Kopf. Der Anblick der vom Turm herabflatternden Tauben ließ mein Herz schneller schlagen – ich begriff, daß die winzigen Luftwirbel, die entstehen, wenn Flügel in der Luft schlagen, Schwingungen auslösen, die mit der Zeit und mit wachsender Entfernung immer mehr anschwellen, um schließlich ins Leben eines russischen Chaosforschers, der nicht mehr auf der Flucht vor dem irdischen Chaos ist, Occasional Rain zu bringen.
    Sachen gibt’s.
     
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