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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor
Autoren: Robert Littell
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er sie richtig entschlüsselt hatte, »ob ich dich heiraten will, ja?«
    Ich erinnere mich, daß ich verzweifelt aufstöhnte. »Also willst du oder willst du nicht? Ja oder nein? UAwg.«
    Er sah mich an wie ein Vogel, der bereit ist, sofort davonzufliegen, falls ihm auch nur die geringsten Bedenken kommen sollten. Als eine ganze Eiszeit vergangen war, räusperte er sich.
    Was er dann rausbrachte, war ein jubelndes »Yo!«.
     
    Ich kann zu Ihnen sagen, daß bei meiner ersten Heirat das Ridiküle die Oberhand über das Rituelle gewann. Ich weiß noch, daß ich da stand in meinem Anzug aus dritter Hand mit fadenscheinigen Flecken an den fadenscheinigen Ellbogen, auf einem mottenzerfressenen Teppich von einem Fuß auf den anderen trat und zu dem verblaßten Farbfoto des obersten Homo sovieticus hinaufsah, das schief an der abblätternden Wand hing, während die Zeremonie, wenn es denn eine war, ihren monotonen Fortgang nahm. Ich weiß noch, daß Wladimir Iljitschs Krämpfe meine Eingeweide zwickten. »Wollen Sie oder wollen Sie nicht?« insistierte ungeduldig die bemalte Babuschka, die die einminütige Zeremonie im Leningrader Hochzeitspalast leitete. »Was soll ich wollen oder nicht wollen?« fragte ich. Die Frau, der es bestimmt war, die Mutter meiner Tochter zu werden, sie war schon im vierten Monat, versetzte mir einen Rippenstoß. Hinter uns beugte sich mein zukünftiger Ex-Schwiegervater, der Direktor des W-A.-Steklow-Instituts für Mathematik, vor und soufflierte mir. Nach seinem Tonfall zu urteilen, war er kurz davor durchzudrehen. Ich war bei ihm als Schwiegersohn in spe nie in die engere Wahl gekommen. »Ob du meine Tochter zur Frau nehmen willst oder nicht«, flüsterte er mir zu.
    »Ich hab schon immer gewußt, daß du ein Auge für Details hast«, bemerkte Rain, als ich ihr die Geschichte von meiner ersten Heirat erzählte; wir warteten am Fuß des Glockenspielturms auf den Rebbe, der uns trauen sollte. »Und, was hast du gemacht?«
    »In der unbegründeten Hoffnung, durch diese Heirat jeden Tag ein kostenloses Mittagessen und irgendwann eine Planstelle am Steklow-Institut zu bekommen, ließ ich ein kaum hörbares ›Warum‹ und ›Nicht‹ von meinen gelähmten Stimmbändern aufsteigen. Die Babuschka erklärte uns zu Mann und Frau. Meine künftige Exfrau applizierte meinen aufgesprungenen Lippen einen trockenen Kuß, eine Anzahlung auf zehn Jahre Ehe ohne Lust und Liebe, und zog mich zur Tür.«
    »Ich wette, irgendwer ist hergegangen und hat Reis gestreut.«
    »Richtig geraten. Ihr Vater, der Direktor des Steklow-Instituts, stellte sich auf die Vortreppe des Hochzeitspalasts und verstreute vietnamesischen Reis, den er sich auf dem schwarzen Mark besorgt hatte.«
    »Die armen russischen Vögelchen«, sagte Rain.
    »Die armen russischen Vögelchen«, stimmte ich ihr zu, obwohl ich eine andere, größere Art von Opfern damit meinte.
    Mit meinem Rucksack von der Roten Armee und meiner Dutyfree-Tüte zog ich wieder bei Rain ein, noch an dem Abend, an dem sie mir den Heiratsantrag gemacht hatte. Wir gewöhnten uns schon bald an unseren Tageslauf. Rain schnitt im Tender bis Mittag Haare und trudelte am Nachmittag im E-Z ein, um das Abendessen zu klauen. Ich verteilte den Tag über Kartons, füllte die Regale auf und suchte nach der Ordnung, von der ich wußte, daß sie sich hinter der scheinbaren Unordnung verstecken mußte. Am Abend verschaffte ich mir Zugang zum Supercomputer des Supermarkts und setzte meine Reise durch die Dezimalstellen von Pi fort, dem Unendlichen entgegen. Jeden zweiten Samstag kickten wir, wenn das Wetter schön war, Rains Harley an und rauschten nach Rochester rüber, ich als Pilot, Rains Kopf an die Rückseite meiner neuen Fliegerjacke gedrückt, es geht ja nichts über ein Motorrad, wenn man sich zehn Jahre jünger fühlen möchte. Zweck der Übung: Ein bißchen chaosbezogenes Vögeln, das Rain neuerdings »Liebe machen« nennt, mit Dwayne und Shirley. Ich lag dann immer wach neben Shirley und hörte, wie sie schnarchte, hörte den Verkehr auf dem Ring und die startenden Flugzeuge, vor allem aber das leise Stöhnen aus Rains wunderschöner weißer Kehle im Zimmer nebenan. Manchmal tappte ich ins Wohnzimmer und befingerte ihre Sachen. Einmal, apropos verschlüsselte Mitteilungen, fand ich Rains Jeans, ihren gerippten Pullover, ihren Calvin-Klein-Slip, Dwaynes Khakihosen, seinen Rollkragenpulli, seine karierten Boxershorts allesamt säuberlich gefaltet über die Couch gelegt. Ich
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