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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor
Autoren: Robert Littell
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eine silberweiß gebleichte Journalistin der Petersburger Prawda namens Axinja Petrowna Wolkowa, die sich an den Montagnachmittagen und Donnerstagabenden der Aufgabe widmete, Erektionen aus Lemuels müdem Fleisch hervorzuzaubern. Axinja, die ein Gewohnheitstier war und regelmäßig eine halbe Stunde lang Lemuels Zimmer aufräumte, bevor sie ihm gestattete, an den Reißverschlüssen und Schnallen und Knöpfen ihrer Kleider herumzufummeln, nahm die Nachricht von seiner bevorstehenden Abreise mit Bestürzung auf.
    »Du vertauschst ein Chaos mit einem andern«, sagte sie ihm, »in der irrigen Annahme, daß sich das Chaos der andern als schöner herausstellen wird. Dein Kumpel Vadim hat dir erzählt, in Amerika wären die Straßen mit Sony-Walkmans gepflastert. Gib’s doch zu, Lemuel Melorowitsch – im Kopf weißt du, daß es ein Märchen ist, aber im Herzen glaubst du, es könnte doch wahr sein. Aber wie auch immer, dein Ausflug wird unweigerlich bös enden – du warst schon immer vom Reisen mehr fasziniert als vom Ankommen.«
    Als diese Argumente ihre Wirkung auf Lemuel verfehlten, fuhr sie schweres Geschütz auf. »Mancher würde für eine Dauerstellung am Steklow-Institut einen Mord begehen. Wie kannst du das einfach so aufgeben?«
    »In Rußland hat jeder eine Dauerstellung«, hatte Lemuel mürrisch erwidert. »Das Dumme ist nur, daß man die Dauerstellung in Rußland hat.«
    Der Gastprofessor (die Dutyfree-Plastiktüte immer noch in der Hand) und das Empfangskomitee zwängen sich – ladies first – in den Kleinbus des Instituts, um die Fahrt zu dem zwölf Meilen entfernten Dorf anzutreten, das sowohl die Universität als auch das Institut beherbergt. Word Perkins, das Faktotum des Instituts (er fungiert als Chauffeur, Nachtwächter, Telefonist, Klempner, Elektriker, Schreiner, Schneeschaufler und Salzstreuer), steigt als letzter ein. »Also, was hamse denn da drin?« erkundigt er sich, während er sich mit Lemuels riesigem Koffer abmüht. »Ziegelsteine vielleicht?«
    »Bücher vielleicht«, erwidert Lemuel schuldbewußt.
    Matilda Birtwhistle schenkt ihm ein aufmunterndes Lächeln. Lemuel grinst unsicher zurück.
    Gekränkt setzt sich Perkins ans Steuer. Wie ein Pilot bei den Cockpit checks klappt er die Ohrenschützer seiner Mütze hoch, rückt sein Hörgerät zurecht, das er über ein Ohr gehakt hat, zieht den Choke und läßt den Motor an. Die Schneeketten an allen vier Rädern machen ein Getöse, daß man sich kaum unterhalten kann. »Und wo, wenn man fragen darf, kommt unser Gasprofessa her?« schreit der Fahrer nach hinten. »Und was macht er, wenn er was macht?«
    Der Direktor dreht sich um und blinzelt rasch – seine Art, sich für die Gleichmacherei in der amerikanischen Gesellschaft zu entschuldigen, die dem Chauffeur ein gewisses Maß an Unverfrorenheit gestattet. »Er kommt aus Sankt Petersburg«, schreit er nach vorne. »Und wenn Sie wissen wollen, was er macht – er ist zufällig einer der führenden Zufallsforscher der Welt.«
    »Ich bin mir nich sicher, ob ich weiß, was ein Zufallsforscher is, aber wenn das was mit Schneefall zu tun hat, dann liegt er bei uns genau richtig, stimmt’s?« bemerkt Perkins. »So viel Schnee, wie wir jetz ham – muß ja das reinste Paradies für Zufallsforscher sein. Hey, Professa aus Petasburg, falls Sie’n Sportsmann sind, im Dorfladen unterm Tender kenn Sie sich superleichte Langlaufski leihn.«
    D. J. verdreht die Augen. Matilda Birtwhistle erstickt ein Kichern in ihrem tibetischen Handschuh. Lemuel, den die Unterhaltung einigermaßen ratlos macht – wozu braucht ein Zufallsforscher Langlaufski, und wer oder was ist ein Tender? –, sieht verdrießlich zum Fenster hinaus. Nun, da er endlich am Ziel seiner Reise angekommen ist, muß er gegen eine ausgeprägte postnatale Depression ankämpfen. Seine ersten Eindrücke von Amerika der Schönen muntern ihn auch nicht auf. Der Kleinbus holpert über eine breite, öde Hauptstraße, die nicht mit Sony-Walkmans gepflastert ist, sondern eine rissige, mit Frostaufbrüchen übersäte Asphaltdecke hat, vorbei an Bergen von Plastik-Müllsäcken, die aussehen, als seien sie von einer Sturmflut an Land geschwemmt worden. Lange Eiszapfen hängen tröpfelnd von Lampenmasten, Ladenschildern und der riesigen Uhr über der Drehtür einer Bank an einer Kreuzung.
    Zwischen schmutzigen Schneehaufen lavierend, fährt der Kleinbus über eine Brücke mit rostigen Eisenträgern und passiert unbeleuchtete, geschlossene Tankstellen
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