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Elric von Melnibone

Elric von Melnibone

Titel: Elric von Melnibone
Autoren: Michael Moorcock
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    EIN MELANCHOLISCHER KÖNIG: EIN HOF WILL IHN EHREN
    Es hat die Farbe eines ausgebleichten Schädels, sein Fleisch; das lange Haar, das gut schulterlang herabfällt, ist milchigweiß. Aus dem schmal zulaufenden schönen Kopf starren schräge Augen rot und bedrückt, und aus den weiten Ärmeln seines gelben Gewandes ragen zwei schmale schlanke Hände, ebenfalls knochenbleich, und ruhen auf den Seitenlehnen eines Sitzes, der aus einem einzigen riesigen Rubin gestaltet ist.
    Die roten Augen wirken nervös, und von Zeit zu Zeit hebt sich eine Hand und betastet den leichten Helm, der die weißen Locken krönt, ein Helm aus einer grünlichdunklen Metallegierung, kunstvoll zur Gestalt eines Drachens geformt, der sich zum Fluge aufschwingen will. An der Hand, die geistesabwesend die Krone streichelt, steckt ein Ring mit einem großen raren Actorios-Stein, dessen Kern zuweilen schwerfällig zerfließt und sich neu formt, als handele es sich um eine intelligente Substanz wie Rauch, die in ihrem Juwelengefängnis so unruhig ist wie der junge Albino auf seinem Rubinthron.
    Er blickt die lange Quarztreppe hinab, an deren Fuß sein Hof im Tanze schreitet, mit solcher Anmut und lautloser Grazie, als wäre es ein Hof von Gespenstern. Seine Gedanken beschäftigen sich mit moralischen Fragen, und schon allein diese Tätigkeit trennt ihn von der überwiegenden Mehrheit seiner Untertanen, denn diese Wesen sind nicht menschlich.
    Es handelt sich um die Bewohner Melnibones, der Dracheninsel, die zehntausend Jahre lang über die Welt herrschte und diese Rolle seit knapp fünfhundert Jahren nicht mehr wahrnimmt. Sie sind grausam und schlau, und ›Moral‹ ist für sie kaum mehr als der angemessene Respekt vor den Traditionen aus hundert Jahrhunderten.
    Dem jungen Mann, dem vierhundertundachtundzwanzigsten direkten Abkommen des ersten Zauberer-Herrschers von Melnibone, will ihre Anmaßung nicht nur arrogant, sondern gar töricht erscheinen; es liegt auf der Hand, daß die Dracheninsel ihre Macht weitgehend verloren hat und in einem oder zwei Jahrhunderten durch eine direkte Auseinandersetzung mit den aufsteigenden Nationen selbst in Gefahr geraten wird, Nationen, die von seinen Untertanen nicht ohne Herablassung die ›Jungen Königreiche‹ genannt werden. Schon haben sich Piratenflotten erfolglos bemüht, Imrryr, die Schöne, die Träumende Stadt, die Hauptstadt der Dracheninsel Melnibone, anzugreifen.
    Dennoch weigern sich selbst die engsten Freunde des Herrschers, die Möglichkeit eines Untergangs von Melnibone auszusprechen. Sie sind bestürzt, wenn er den Gedanken äußert, halten sie doch solche Überlegungen nicht nur für undenkbar, sondern auch für einen extremen Bruch der Etikette.
    So ist denn der Herrscher als einziger von düsteren Gedanken heimgesucht. Er beklagt, daß sein Vater, Sadric der Sechsundachtzigste, nicht mehr Kinder gezeugt hat, hätte dann womöglich doch ein geeigneterer Monarch für den Rubinthron gefunden werden können. Sadrics Tod liegt nun ein Jahr zurück; das Unbekannte, das seine Seele holen kam, hieß er freudig flüsternd willkommen. Den größten Teil seines Lebens kannte Sadric keine andere Frau außer der seinen, denn die Herrscherin war gestorben, als sie ihren ersten und einzigen dünnblütigen Nachkommen gebar. Doch mit echt melniboneischem Gefühl (das sich seltsam von jenem der menschlichen Emporkömmlinge unterschied) hatte Sadric seine Frau geliebt und hatte fürderhin an anderer Gesellschaft keine Freude gefunden, auch nicht an der des Sohnes, der sie getötet hatte und der als einziges von ihr übrig war. Durch Beschwörung von Runen und mit Hilfe von Zaubermitteln und seltenen Kräutern hatte man diesen Sohn aufgepäppelt, seine Kräfte wurden künstlich genährt unter Anwendung aller Kniffe, die den Zauberer-Königen Melnibones bekannt waren. Und so hatte er denn überlebt - und lebt noch immer -, dank Zauberei und noch einmal Zauberei; von Natur aus ist er apathisch und wäre ohne seine Drogen an normalen Tagen nicht lange in der Lage, auch nur die Hand zu heben.
    Wenn der junge Herrscher seiner lebenslangen Schwäche überhaupt einen Vorteil abgewinnen konnte, dann wohl dem Umstand, daß er gezwungen war, viel zu lesen. Noch ehe er das fünfzehnte Lebensjahr vollendete, hatte er jedes Buch in der Bibliothek seines Vaters studiert, manchen Band sogar mehr als einmal. Seine Zauberkräfte, deren Grundlagen Sadric legte, stellen die seiner Vorfahren weit in den Schatten - seit
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