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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor
Autoren: Robert Littell
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und Supermärkte, Möbel-Discountläden und eine Sparkasse in Ziegelbauweise neben einer grau gestrichenen Holzkirche mit einem Kinoplakat, auf dem CHRIST SAVES steht, ohne Angaben darüber, wen oder was er rettet. Lemuel erblickt eine beleuchtete Reklametafel am Straßenrand, die Zweifel in ihm weckt, ob er denn mit seinem Englisch aus der Ausbildungsvorschrift der Royal Canadian Air Force zurechtkommen wird.
    Er beugt sich vor und tippt D. J. auf die Schulter. »Was soll denn das heißen, ›Nonstops to the most Florida cities‹? Wie kann eine Stadt mehr Florida sein als eine andere?«
    »Hey, Professa aus Petasburg, sehn sich mal die Bäume an«, ruft Perkins, bevor D. J. den Text auf der Reklametafel ins Serbokroatische übersetzen kann. »Haben sich in lauter Trauerweiden verwandelt, was? Wir harn nämlich grade den schlimmsten Eisregen gehabt seit 1929 – hat gestern fast den ganzen Tag Katzen und Hunde geregnet. Und in der Nacht ist die Tempratur auf fünf runter.«
    »Fünf Grad Fahrenheit«, erläutert Sebastian Skarr, »entsprechen minus fünfzehn Grad Celsius.«
    »Katzen? Hunde?« fragt Lemuel verdattert.
    »Das ist eine idiotische idiomatische Redewendung«, erklärt Charlie Atwater und grinst betreten, weil er immer noch den Schluckauf hat.
    Vor ihnen läßt ein pulsierendes Licht auf einem Laster winzige orangefarbene Explosionen über die mit Eis lackierte Fahrbahn schlittern. Der Kleinbus holt das Fahrzeug ein, das Sand auf die Straße streut. Lemuel späht durch das Fenster neben seinem Sitz in die Nacht hinaus und erkennt nach und nach Äste und Stromleitungen, die mit Eis überkrustet sind und unter dem Gewicht durchhängen. Er fängt an, einen faszinierenden Traum auszuspinnen: Irgendwo in den endlosen Weiten Sibiriens schlägt ein Nachtfalter mit den Flügeln. Die winzigen Luftwirbel, die seine schwirrenden Flügel auslösen, pflanzen sich als Schwingungen fort, die mit wachsender Entfernung immer stärker werden und sich schließlich in einem Eisregen entladen, der die Ostküste von Amerika der Schönen lahmlegt.
    Noch ein Fußabdruck des Chaos!
    D. J. zeigt auf das Schild, das an der Stelle steht, wo das platte Land aufhört und das Dorf anfängt. Unter dem Eismantel steht: »Universität Backwater – gegründet 1835.« Darunter ist ein kleineres Schild: »Sitz des Instituts für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung.« Sekunden später bringt Perkins den Bus vorsichtig zum Stehen, vor einem grünen Holzhaus mit umlaufender Veranda, das ein Stück von der Main Street zurückgesetzt ist. Ein Schwall eisiger Luft dringt in den Bus ein, als Perkins, den Parka bis zum Kinn zugeknöpft und die Ohrenschützer runtergeklappt, die Tür aufmacht. Er packt Lemuels Pappkoffer am Seilgriff und stapft über den gesandeten Weg aufs Haus zu.
    Der Direktor dreht sich zu Lemuel um. »Angesichts der Kälte etcetera verzichte ich, glaube ich, lieber auf die Gelegenheit, mit Ihnen hineinzugehen.« Er beugt sich näher zu ihm hin und senkt die Stimme. »Verzeihen Sie die Frage, aber wo lassen Sie sich die Haare schneiden?«
    »Das mache ich selbst. Vor dem Spiegel.«
    Der Direktor läßt unauffällig einen Umschlag in die Tasche von Lemuels braunem Mantel gleiten. »Ein bißchen Bargeld, damit Sie über die Runden kommen, bis Sie Ihren ersten Gehaltsscheck einlösen.« Er räuspert sich. »Ach, darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?«
    »Bitte sehr.«
    »Es gibt einen Friseursalon im Ort, über dem Kramladen.« Er bedenkt Lemuel mit einem verschwörerischen Zwinkern. »Er hat bis Mittag offen.« Der Direktor spricht wieder mit normaler Stimme. »Der Professor, mit dem Sie das Haus teilen werden, erwartet Sie. Morgen ist Ihnen zu Ehren ein Institutsessen, anschließend zeige ich Ihnen Ihr Büro und mache Sie mit Ihrem weiblichen Freitag bekannt.«
    »So nennen wir unsere Sekretärinnen«, erläutert D. J. in ihrem Serbokroatisch.
    Lemuel fragt sich, wer von Montag bis Donnerstag seine Briefe tippen wird, und geht unter gemurmelten Dankesworten zwischen den Sitzen durch nach vorne, wobei er rechts und links Hände schüttelt. Während er sich der Tür nähert, hat er das Gefühl, daß er gleich mit dem Fallschirm in einen eisigen Abgrund springen wird. Er schlingt sich sein khakifarbenes Halstuch aus Armeebeständen noch ein weiteres Mal um den Hals, zurrt die Riemen seines Tornisters fest und tritt ins Leere hinaus. Auf dem Weg zum Haus begegnet er Perkins, der zum Bus zurückwatschelt. Perkins
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