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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor
Autoren: Robert Littell
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Beinahe-Zufälligkeit. So kam ich dabei, um Ihnen ein Beispiel zu geben, auf die Idee, einen Computer so zu programmieren, daß er fast völlig zufallsgesteuert in die unendliche Kette der Dezimalstellen von Pi eintauchte, um einen aus drei Zahlen bestehenden Schlüssel zu schaffen, der seinerseits Codes erzeugte, die der reinen Zufälligkeit bemerkenswert nahe kamen und damit so gut wie nicht zu entschlüsseln waren. Aber ich möchte an dieser Stelle noch nicht ins Detail gehen.
    Mit alledem will ich sagen, daß nichts Extraordinäres daran war, wie ich meine erste Nacht in Backwater verbrachte. Bei der Inspektion meines amerikanischen Wohnzimmers, das anscheinend im modernen mexikanischen Stil eingerichtet war (überall sehr viel Stroh), tippte ich einen Korbschaukelstuhl an und sah zu, wie er hin und her wippte. Er erinnerte mich an mehrere Anwendungen der Pendelgesetze, an denen ich Jahre zuvor gearbeitet hatte, und er erinnerte mich auch an meine Geliebte, wie sie über mir kniete und ihre Brüste wie Pendel hin und her schwangen, während sie sich abmühte, meinem schwachen Fleisch Erektionen zu entlocken. Mit einemmal bemächtigten sich Erinnerungen aus Petersburg meiner Gehirnzellen, Erinnerungen, von denen ich gegen alle Wahrscheinlichkeit gehofft hatte, sie ein für allemal hinter mir gelassen zu haben – gesichtslose Männer kamen scharenweise aus Türen und Fenstern, Schuhe mit dicken, eisenbeschlagenen Sohlen traten nach am Boden liegenden Gestalten, ein kleiner Junge, den ich nicht erkannte, krümmte sich in einer Ecke. Oj!
    Marcel Proust sagt irgendwo, das einzige Paradies sei das verlorene Paradies. Oder so ähnlich. Das verlorene Sankt Petersburg kam mir auch jetzt nicht vor wie ein Paradies. Genausowenig allerdings das gefundene Backwater. So daß ich also wie der Rebbe in seinem traghetto durch Wasser zwischen zwei Küsten glitt, unterwegs …
    Wenn ich es genau überlege, hatte meine Geliebte wahrscheinlich recht, als sie sagte, mich interessiere das Reisen mehr als das Ankommen. Von letzterem bekomme ich Migräneanfälle. Wenn doch nur jemand eine Reise ohne Ende erfände!
    Mit dem Gefühl, am falschen Ort, in der falschen Zeit, im falschen Rhythmus zu sein, lief ich ruhelos in der Wohnung über dem Rebbe herum, maß mit Schritten den Abstand von Wand zu Wand, von Fenster zu Tür, von Bücherregal zu Kamin, von einem Ende des Flurs zum anderen, von der Toilette zur Badewanne, berechnete die Quadratmeter und fiel fast in Ohnmacht, als ich auf hundertzwanzig kam, das Doppelte der Wohnung, die ich in Petersburg mit zwei Ehepaaren geteilt hatte. Ich erkundete Kammern und Winkel und den Kriechraum unter der Treppe, die unters Dach führte, und betätigte ständig Schalter – ich stellte den Toaster und die Mikrowelle an, die Geschirrspülmaschine, den elektrischen Messerschleifer, den elektrischen Dosenöffner, den Toshiba-Laptop T 3200 SX. Im Bücherregal stand eine Sony-HiFi-Anlage, die mich auf dem Schwarzmarkt in Sankt Petersburg ein Jahresgehalt gekostet hätte. Ich drückte Tasten, drehte an Knöpfen. Ein Radio ging an. Es lief gerade eine Frühsendung mit Höreranrufen und einem Moderator, der so schnell redete, daß ich die Augen zumachen mußte, um einigermaßen mitzukommen.
    Wenn ich die Situation richtig verstand, war der Moderator gerade dabei, die Sendung für die stündlichen Nachrichten zu unterbrechen. An einiges, was er sagte, kann ich mich noch erinnern. Eine Angestellte der Lotterieverwaltung von South Dakota hatte sich beim Abschreiben der Losnummer des Hauptgewinns vertippt. Daraufhin hatte man einem siebenundsiebzigjährigen Mann mitgeteilt, er habe zwölf Millionen Dollar gewonnen. Tags darauf, als der Fehler entdeckt wurde, traf ihn der Schlag. Von der lokalpolitischen Front wurde berichtet, daß Bürger, die gegen den Bau einer Atommüll-Deponie protestierten, von einer Kommission der Staatsregierung mit dem Hinweis beruhigt worden waren, die Deponie bringe keinerlei gesundheitliche Gefahren für die Bevölkerung mit sich. Bundesgesetze schreiben vor, daß jeder Staat bis 1993 eine Stätte für die Entsorgung radioaktiver Abfälle von Kernkraftwerken, Krankenhäusern und Industriebetrieben ausweisen muß. Die Bürgerinitiative, die gegen die Atommülldeponie protestiert, macht dagegen geltend, daß der radioaktive Abfall ins Grundwasser durchsickern und schließlich die Trinkwasserversorgung des Landkreises gefährden könne. Und nun noch die letzte Meldung der
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